Hörbücher
F. hört ein Buch
"Frankfurt liest ein Buch" ist auf dem besten Wege, eine lokale Erfolgsstory zu schreiben. Bereits zum vierten Male hat der gleichnamige Verein ein Buch mit einem starken Bezug zu Frankfurt ausgewählt, um es zum Gesprächsstoff in der Mainmetropole zu machen und für zwei Wochen im kulturellen Zentrum der Stadt zu platzieren. In der zweiten April-Hälfte wird es über 70 Veranstaltungen geben, in denen Siegfried Kracauers Frühwerk "Ginster" besprochen wird. Zahlreiche Lesungen, Diskussionsforen, Ausstellungen und literarische Stadtspaziergänge auf den Spuren Kracauers werden dann die kulturell interessierten Frankfurter Bürger beglücken.
Nach dem großen Starterfolg der Idee, Frankfurt ein Buch zum Lesen zu geben, im Jahre 2010 mit Valentin Sengers unglaublicher Überlebensgeschichte "Kaiserhofstraße 12" zur Zeit des Nationalsozialismus hat man in den darauffolgenden Jahren ebenfalls Werke ausgewählt, die sich auf eine jeweils besondere Epoche Frankfurts fokussieren. Wilhelm Genazinos "Abschaffel" entführte vor zwei Jahren die Frankfurter Bücherfreunde in die Siebziger Jahre, während Silvia Tennenbaums "Straßen von gestern" im Vorjahr das Leid und den Untergang einer jüdischen Familie in der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts thematisierte. Für Kracauers "Ginster" bildet der Erste Weltkrieg den prägenden Hintergrund der Handlung.
Wie sein Anti-Kriegsheld Ginster verdiente sich der im Jahre 1889 in Frankfurt geborene Kracauer seine ersten Brötchen als Architekt, bevor er dann sukzessive als Schreiberling seine Meriten erlangte – zunächst als Feuilletonist, später dann mit Romanen sowie soziologischen und philosophischen Schriften. "Ginster" bildete im Jahre 1928 Kracauers Romandebüt, in dem er seine eigenen Erfahrungen und Erlebnisse rund um den Ersten Weltkrieg einer fiktiven Figur, die folglich starke autobiographische Züge trägt, übertrug. Sein umfangreiches Gesamtwerk, das im Nachgang zu "Frankfurt liest ein Buch" sicherlich erhöhte Aufmerksamkeit erlangen dürfte, produzierte er anschließend in vier abwechslungsreichen Jahrzehnten, bevor Kracauer 1966 im Alter von 77 Jahren in New York verstarb.
Kracauers Protagonist und Alter Ego Ginster ist zu Beginn des Ersten Weltkriegs 25 Jahre alt und Absolvent eines Architekturstudiums. Die Einberufung an die Front droht, Ginster ist hin- und hergerissen, doch schnell ernüchtert vom Kriegswahn. Er versteht es geschickt, den Kelch an sich vorüberziehen zu lassen. Die Nachricht vom Tod seines Freundes Otto desillusioniert ihn vollends. Ginster steht am Rande der Gesellschaft und beobachtet das Geschehen auf der Bühne des Lebens mit respektablem Abstand. Dabei lässt er sich durch einige Städte Deutschlands treiben, die allesamt von Kracauer nicht namentlich genannt werden, sondern stets nur mit dem ersten Buchstaben der jeweiligen Stadt bezeichnet werden. Aufgrund der Beschreibungen lassen sich diese jedoch eindeutig identifizieren. Den Schwerpunkt bildet dabei die Stadt F., die ganz offensichtlich der alten Kaiserstadt am Mainufer entspricht.
Das vorliegende Hörbuch liefert dem Freund auditiver Unterhaltung eine auf fünf Stunden gekürzte Lesung des über 300 Seiten starken Pendants in gedruckter Form. Bereits von Anfang an ist es bei "Frankfurt liest ein Buch" bewährte Tradition, dass es nicht nur zu einer Neuauflage des auserkorenen Buchs kommt, sondern zugleich auch ein Hörbuch produziert wird. In diesem Jahr zeichnete Osterwold Audio dafür verantwortlich und engagierte den österreichischen Schauspieler Michael Rotschopf als Sprecher für die gekürzte Lesung. Die "Ginster" dominierende Sachlichkeit schafft wenig überraschend eine gewisse Distanz zwischen Vortragendem und Rezipienten. Folglich muss der Hörer eine empfängliche Haltung einnehmen, um den Raffinessen Ginsters sowie Kracauers auf den Grund gehen zu können. "Ginster" ist kein Hörbuch, das man auf sich einprasseln lassen sollte, sondern dem man sich konzentriert widmen muss, um es vollumfänglich genießen zu können.
Glücklicherweise scheint unzweifelhaft festzustehen, dass es auch 2014 zu einer Neuauflage von "Frankfurt liest ein Buch" kommen wird. Dieses Lesefest hat sich zu einem bedeutenden Pfeiler in Frankfurts kulturellem Leben etabliert und mit Spannung erwartet man jedes Jahr aufs Neue, welches Werk denn im Frühjahr das Objekt der Begierde sein wird.
Christoph Mahnel
08.04.2013