Romane
Mannwerdung auf Amerikanisch
Drei verschiedene Generationen planen ein Männerwochenende in der Wildnis von Oregon: Großvater Paul, Sohn bzw. Vater Justin und Enkel Graham begeben sich in die Abgeschiedenheit der Wälder, um dort zu fischen, zu jagen, zu zelten und am Lagerfeuer zu sitzen. Justins Ehefrau Karen hatte die Pläne ihres ungeliebten Schwiegervaters schon von Anfang an mit Argwohn beobachtet, da sie befürchtete, dass die Initiation ihres zehnjährigen Sohnes in die Männerwelt ein wenig zu früh kommt. Dass allerdings sie als die zu Hause in Bend Alleingelassene diejenige ist, die in allerhöchste Gefahr gerät, ahnt sie weniger als die drei Männer, die abgeschnitten von der Zivilisation auf Spuren stoßen, die nichts Gutes verheißen.
Benjamin Percy, der selbst in dem als Kulisse dienenden Oregon aufgewachsen ist, hat in seinem Romandebüt "Wölfe der Nacht" einen Mix aus Abenteuerroman und Thriller geschaffen. Was sich zunächst wie die moderne Variante eines Klassikers aus der Feder Jack Londons anhört, wird sukzessive zu einem Gänsehauterlebnis für den Leser. Percy wählt für seinen Roman wechselnde Perspektiven. Die Benennung der einzelnen Kapitel hat er schlicht mit "Justin", "Paul", "Karen" oder "Brian" versehen - je nachdem, aus welchem Blickwinkel er den Fortgang der Handlung erzählt. Dies schafft für den Leser eine optimale Sicht auf die Gefühle und Gedanken der einzelnen Protagonisten, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Die Ehe von Justin und Karen hängt am seidenen Faden, sodass für Karen die Aussicht auf ein Wochenende alleine zu Hause die willkommene Gelegenheit ist, ihre Ehe für sich grundlegend zu überdenken. Dass sie dabei in das Visier eines Irak-Veteranen gerät, der ihr nachstellt und peu à peu in Karens Intimsphäre eindringt, ist ihr zu keinem Zeitpunkt bewusst. Dagegen sind sich Justin und Graham ständig der Gefahren der Wildnis bewusst, als sie auf verschiedene Spuren und Indizien stoßen, die sie das Blut in den Adern gefrieren lassen. Treibt sich tatsächlich ein Grizzlybär in den Wäldern Oregons umher und trachtet nach ihren Leben?
"Wölfe der Nacht" ist ein Buch, das die Mannwerdung im US-amerikanischen Stil als grundlegendes Motiv hat. Für Großvater Paul ist die Zeit nämlich gekommen, dass der zehnjährige Graham erstmals eine Waffe in die Hand nimmt, um ein Tier zu töten, und am Lagerfeuer mit einer Dose Bier in der Hand sitzt. Grahams Vater Justin sieht die Pläne seines Vaters mit großen Vorbehalten, doch ist er nicht in der Lage, seinem Vater die Stirn zu bieten. Zutage tritt dabei nämlich sein problematisches Verhältnis zum eigenen Vater, dessen Spannung wie ein Schleier über dem gemeinsamen Ausflug liegt.
Der Einstieg in das vorliegende Buch gestaltet sich für den Leser nicht ganz so einfach. Es dauert einige Kapitel, bis man sich in die gewöhnungsbedürftige Sprache Benjamin Percys hineingefunden hat, bevor die sich zunächst dahinschleppende Handlung Fahrt aufnimmt. Der Leser wird allerdings spätestens in der zweiten Hälfte für seine Anfangsbemühungen belohnt, da sich "Wölfe der Nacht" zu einem rasanten Thriller an zwei Fronten entwickelt, sodass man nicht weiß, um wen man sich größere Sorgen machen muss, ob um Karen, der von Brian massiv nachgestellt wird, oder um die drei Männer, die immer unheimlicheren Vorgängen hilflos ausgeliefert sind.
Benjamin Percy hat ein sehr fokussiertes Buch geschrieben: "Wölfe der Nacht" besitzt keine ausschweifenden Handlungsstränge, sondern konzentriert sich vollends auf die wenigen Protagonisten. Dabei werden auch ausschließlich deren für die Handlung benötigten Charaktereigenschaften hergeleitet und belegt. Es steht zu befürchten, dass der Autor, der ebenfalls seine Wurzeln im tiefsten Oregon hat, dieses Buch geschrieben hat, um möglicherweise eine eigene problembehaftete Vater-Sohn-Beziehung zu verarbeiten. Herausgekommen ist dabei jedoch unzweifelhaft ein höchst ungewöhnlicher Debütroman, der es abseits der ausgetretenen Pfade versteht, mit geringem Aufwand maximale Spannung zu erzeugen.
Man wird das Buch am Ende zuschlagen und sich glücklich schätzen, falls man sein Leben größtenteils in der Zivilisation verbringen darf, keinem Über-Vater untergeordnet ist und niemals im Irak dienen muss.
Christoph Mahnel
15.07.2013