Romane
Vom Rätsel des Menschseins
"Ein modernes Märchen" lautet der Untertitel. Und was für eines: Zusammenfassung des momentanen Wissensstandes der Forschung, Liebesgeschichte mit unerwartetem Ausgang, eine Zeitreise und gleichzeitig der kühne Entwurf eines Utopia inmitten unserer Welt! Wenn Sie klar erkennen, dass unser gesellschaftliches System in gewohnter Manier nicht dauerhaft sein kann, gleichzeitig mutig genug sind, mit Phantasie neue Wege zu bedenken und keine Berührungsängste haben, sich mit den verschiedensten Gedankenströmen und Erkenntnissen auseinander zu setzen, werden Sie mit diesem Buch einen Quantensprung im Kopf vollziehen.
Was Knippel hier an einer Liebesgeschichte zwischen der Spezialistin für Konfliktbewältigung, Amina, und Arturo, dem begabten Komponisten und Geiger, aufhängt, ist ein ausgezeichnet recherchierter Ansatz, eine Zusammenschau zu schaffen: Woher kommen wir, wohin gehen wir, woran krankt unser System Erde, wie weit sind die einzelnen Forschungsrichtungen? Die Grundfragen des Menschseins werden aufgegriffen und durchdacht – nicht einseitig, wie wir es von uns selbst gewohnt sind, da jeder Mensch seinen je eigenen Blickwinkel hat, sondern in einer Gruppe von Menschen, die das Führungsgremium der Republik Terra madre bilden – allesamt hochspezialisierte Menschen mit einer Vision, nämlich der Idee, dass durch gemeinsame Arbeit, Verknüpfung der bislang getrennt verlaufenen Forschungsrichtungen, konkret formulierte Ideale und Ziele die Erde nicht dem Untergang geweiht ist, sondern zu dem werden kann, wonach sich alle Menschen sehnen: Ein Ort, an dem man leben, arbeiten, wohnen, gemeinsam forschen und musizieren kann, in gemeinsam getragener Verantwortung für das, was getan wird, in Achtung vor anderen Ansichten, mit dem angemessenen Respekt vor der Schöpfung, die uns nur geliehen wurde.
In mehreren Rückblicken zeichnet Knippel einige historische Ereignisse nach, die für uns Menschen von besonderer Bedeutung waren wie die Pest, die Erfindung von Fernrohr und Mikroskop und es gelingt ihm auch, die momentane Schieflage auf der Erde pointiert aufzuzeigen. Dass diese Entwicklung, das einseitige Geben und Nehmen, die egoistische Gier nach Besitz, nach Erreichbarkeit und die technischen Möglichkeiten gewaltige Gefahren bergen, macht ein Umdenken notwendig. Es genügt nicht, wenn einzelne Menschen ihren Garten nicht mehr mit Unkrautvernichtungsmitteln belasten, wenn der Rest der Menschheit flugzeugweise Round up versprüht. Wenn wir technisch Menschen klonen können, wird es jemanden geben, der es ausprobiert. Der unglaubliche Boom im Esoterikbereich, die Sinnsuche, die immer mehr Menschen ergreift, die Leere, die mit Drogen und anderem Ersatz gefüllt wird sind Symptome dafür, wie viele Menschen insgeheim spüren, dass das Leben, das sie führen, nicht echt, nicht wahr und nicht befriedigend ist. Immer mehr Menschen erkennen die Grenzen, die unser Ökosystem erreicht hat und sind bereit zur Umkehr oder, besser ausgedrückt, Neuausrichtung.
Knippel führt unsere momentane Lage weiter: "Eines Tages nun kam es zum unvermeidlichen Zusammenbruch der Börse. Aber diesmal brachen nicht nur Wirtschaften und Märkte in der Dritten Welt zusammen, sondern auch die der wirtschaftlich reichen Länder Europas, Amerikas und Asiens ... Die wirtschaftlichen Folgen waren so gewaltig, dass diesmal etwas geschah, das niemals vorher auch nur in Erwägung gezogen wurde. Man handelte ... Und so beschloss das Gipfeltreffen der wirtschaftlich und militärisch mächtigsten Staaten der Welt einen Schritt, der dem Bewusstseinsstand der Mächtigen um vieles voraus war, nämlich einen großen Modellversuch zum Aufbau einer humaneren Gesellschaft, die eine solche Katastrophe für die Zukunft ausschloss: das Projekt Terra madre ... Auswahl und Besetzung erfolgte so, dass das gesamte Gedankengut der Menschheit, soweit dies möglich war, in das Projekt einfließen konnte." Hier treffen die Menschen, die man am Anfang des Buches kennen lernt, aufeinander: der Psychologieprofessor, die Spezialistin für Konfliktbewältigung, der Komponist, der Naturwissenschaftler, die Fachfrau für Malerei und Architektur, der Religionswissenschaftler und der indische Spirituelle – sie bilden das Führungsgremium von Terra madre. In intensivstem Austausch werden die Wege der Menschheit eruiert – wer kann was wozu beisteuern, um möglichst menschen- und naturgemäß zu leben?
Im ersten Buchteil erfährt der Leser unglaublich viel über den derzeitigen Stand der Wissenschaft – morphogenetische Felder, Einstein und die Folgen, die neuesten Erkenntnisse zu Schwingungen aus der Physik werden ebenso angesprochen wie die Tiefen von Bellinis Musik ausgelotet, die Sehnsucht der Menschen nach Spiritualität und Glaube erörtert. Und durch die Gesprächsrunden wird klar, wie gut es wäre, wenn die einzelnen Forschungsrichtungen nicht getrennt im stillen Labor immer spezialisierter in die Tiefe arbeiteten, sondern mit einem gemeinsamen Ziel die Erkenntnisse austauschen und sich gegenseitig befruchten. Im zweiten Teil, als das Projekt Terra madre in Angriff genommen wird, geht es um die praktische Umsetzung der theoretischen Ideen und das Führungsgremium entwickelt aus den Gedanken der "Vorrunden" den Entwurf der neuen Gesellschaft, in dessen Präambel es heißt: "Im Mittelpunkt steht der selbstbestimmte, autonome Mensch, der seinen inneren Ruf folgt, dabei aber erfüllt ist von dem Gedanken der Einheit und der Verbundenheit aller Wesen und Dinge und deshalb für die Schöpfung Verantwortung fühlt. (...) Man soll nicht dem Zeitgeist folgen, sondern ewige Wertmaßstäbe für Geist und Seele setzen, die jenseits aller Grenzziehungen und Polaritäten liegen."
Am Ende kommen wir Leser wieder bei dem suchenden Eremiten der ersten Seite an – dieses Mal kennt er den Weg, den er gehen muss, damit ihm ein Licht "aufgeht". Ein Anhang druckt das "Buch des Wissens" ab, das die einzelnen Spezialisten anlegen, um ihre Gedanken zu einzelnen Punkten noch tiefgreifender zu beantworten – hier findet man den regen Austausch der einzelnen Disziplinen. Es herrscht nicht immer trauter Sonnenschein, die Debatten sind hitzig und es gibt Punkte, über die man sich nicht verständigen kann, sondern den jeweiligen Standpunkt einfach akzeptieren muss, aber auch das ist ein Lernprozess, den man durchaus bewältigen kann.
Am Anfang war ich beim Lesen skeptisch, zu tief gingen manche wissenschaftlichen Erläuterungen (was eher einen Nachholbedarf meinerseits aufzeigte). Dieser Eindruck löste sich sehr rasch auf und ich wurde reich beschenkt mit einer Fülle von Ideen, Gedanken und einer Zusammenschau, die ungeheuer fleißig, korrekt, vor allem aber mitreißend überzeugend zusammengestellt wurde. Dem ganzen Buch spürt man die Tiefe an, den angemessenen Umgang mit den Gaben der Menschen, der uns zu großartigen Leistungen befähigt, wenn wir sie nur richtig nutzen. Amina ist mehr als ein Märchen. Es ist eine geistige Richtschnur für den Weg, den die Menschheit nehmen kann. Das Buch atmet Freiheit, Weisheit und den Willen, Veränderungen vorzunehmen, auch wenn sie nicht immer von allen so gewünscht werden. Es zeichnet kein idealistisch abgehobenes Utopia, keine Insel der Glückseligen, auf der gebratene Tauben einherfliegen und alle Menschen glücklich im Sonnenschein liegen. Es macht sensibel für das, was schon von Menschen geleistet wurde, öffnet die Augen auch für falsche Wege und vor allem schenkt es Hoffnung, dass wir Menschen es selbst in der Hand haben, wohin sich die Wagschale senken wird. Oder, wie Knippel es seinem Musiker in den Mund legt: "Alle Wesen und Dinge sind miteinander verbunden ... Jeder Einzelne kann das Bewusstsein aller erhöhen, deshalb müssen wir es wagen. Humanismus muss immer gewagt werden, unabhängig von seinen Erfolgsaussichten. Und diese Aussichten sind jetzt besser als je zuvor. Wenn wir aufrecht gehen wollen, bleibt uns kein anderer Weg." Aminas Antwort darauf ist ebenso wahr: "Wir sollen unser Leben lang zwischen beiden Polen schwingen und wenn wir spüren, dass Individualität in der Einheit ist und Einheit in der Individualität, dann sind wir frei. Diesen Weg muss jeder für sich allein gehen, das Bedürfnis muss von innen kommen. Es darf uns nicht nur von außen verkündet werden." Mit dieser Lektüre gießt man eine große Menge Wassers auf die Bedürfnismühle der Menschheit. Schön, wenn wir alle in diesem Sinne zu Wasserträgern würden!
csc
15.08.2002