Romane
Aus dem Leben einer Leseratte
Firmin, der Held des gleichnamigen Romans von Sam Savage, gehört einer ganz besonderen Spezies an. Er ist eine Leseratte - und das im wahrsten Sinne des Wortes. Es mag zunächst ungewöhnlich erscheinen, einen Roman aus der Sicht eines Nagetiers zu schreiben, aber Firmin ist eben auch eine außergewöhnliche Ratte, die hier ihr gesamtes Leben offenlegt. Dabei stellt sich unweigerlich die Frage, ob diese Ratte am Ende nicht doch der bessere Mensch ist.
Bemerkenswert ist schon Firmins Geburt in einer nasskalten Novembernacht 1960, denn seine Mam Flo, eine fette Alkoholikerin, bringt ihren Wurf nicht irgendwo zur Welt, sondern im Keller eines Buchladens am Scollay Square in Boston. Im Gegensatz zu seinen zwölf nackten und blinden Geschwistern besitzt der schwächliche Rattenjunge bereits ein Fell und plumpst mit offenen Augen in ein Nest, dass seine Mutter aus Schnipseln von "Finnegans Wake" von James Joyce gebaut hat.
Als Nr. 13, die meist keine der zwölf mütterlichen Zitzen ergattert, verlegt sich der hungernde Firmin bald darauf, sich Buchseiten einzuverleiben, bis er schließlich entdeckt, dass man Bücher auch anders konsumieren kann. Und er stellt fest, dass gut essbare Lektüre auch gut lesbar ist. So erobert er sich nach und nach den Buchladen und vergöttert dessen Besitzer Norman Shine, der ihm jedoch das Herz bricht, als er versucht Firmin mit Rattengift zu töten.
Nach einem völlig missglückten Versuch, sich Menschen verständlich zu machen, landet Firmin schließlich verletzt bei Jerry Magoon, der in einer Wohnung über dem Buchladen wohnt und als Schriftsteller tätig ist. Auch für diesen empfindet Firmin bald tiefe Zuneigung und wird diesmal nicht enttäuscht. Doch dann stirbt Jerry an den Folgen eines Schlaganfalls und der Scollay Square wird nach und nach abgerissen.
Sam Savages Roman ist ein absolutes Muss für alle Buchfreunde. Firmin ist ein tragikomischer Held, den man einfach sympathisch finden muss, weil er den Leser in einer Art und Weise anspricht, die zwangsläufig zur Selbsterkenntnis einer jeden Leseratte führen muss. Herrlich selbstironisch und mit einem Augenzwinkern, manchmal aber auch äußerst melancholisch erzählt der kleine pelzige Sprachkünstler, der sich gerne auch schon einmal einen Porno anschaut, vom ersten bis zum letzten Tag seines Lebens in guten wie in schlechten Zeiten. Firmin lebt und erlebt Literatur, die er zum Fressen gernhat, und so wird auch jeder, der etwas für gute Literatur übrig hat, diesen Roman von der ersten bis zur letzten Seite mit Hochgenuss verschlingen.
Christian Götz
12.04.2010