Romane
Geschichten in Geschichten - Brasilianische Erzählkunst
Egal wie weit man flüchtet, die Schatten der Vergangenheit werden immer mit uns reisen. Genau dies ist die Botschaft in Bernardo Carvalhos mitreißendem Roman "In Sao Paulo geht die Sonne unter". Der Schriftsteller, der bereits mit den renommierten brasilianischen Literaturpreisen "Premio Machado des Assis" und "Premio Jabuti" ausgezeichnet wurde, befasst sich in seinem neuesten, dritten Roman mit dem Schicksal japanischer Einwanderer in Brasilien.
Der Protagonist, ein arbeitsloser Werbetexter - der den ganzen Roman über namenlos bleibt -, wurde gerade von seiner Frau verlassen. Arbeitslos und ohne die Frau, die er so sehr liebt, beginnt er, sich an seine Studienzeit zu erinnern und an seinen damals dringenden Wunsch, Schriftsteller zu werden. So kommt es, dass er ein japanisches Lokal aufsucht, in dem er damals immer mit seinen Kommilitonen gegessen und getrunken hatte. Er ist längst wieder zum Stammgast geworden, als sich eines Abends die alte Japanerin und Besitzerin des Restaurants, Setsuko, zu ihm setzt. Sie fragt, ob er Schriftsteller sei, und ehe sich der Verzweifelte versieht, hat er diese Frage bejaht. Da beginnt Setsuko ihm die Geschichte ihres Lebens zu erzählen, deren Kern das tragische Schicksal eines jungen Ehepaares ist, für das sie einst gearbeitet hat. Setsuko berichtet dem Werbetexter von Betrug aus Vaterliebe, von Ehrverlust und einer heimlichen, unerfüllten Liebe. Den arbeitslosen Werbetexter hat Setsuko nun dazu auserkoren, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben.
Doch noch bevor Setsuko ihre Geschichte vollenden kann, verschwindet die Restaurantbesitzerin spurlos. Die Hauptperson reist Setsuko hinterher, die er in Japan vermutet. Doch dort irrt er scheinbar ziellos umher, getrieben von dem Wunsch, Setsuko zu finden und das Ende ihrer Geschichte zu erfahren. Bei seiner Suche hilft ihm seine Schwester, die in Japan arbeitet. Auch sie bleibt namenlos und schnell wird deutlich, dass auch die Schwester des Protagonisten eine Wandernde ist, die vor einer alten Familiengeschichte davonläuft.
Schließlich führt der Autor Carvalho seinen Roman zu einem unvermuteten Schluss, in dem sich alle zuvor aufgebauten Fragen lösen. Mit dem Protagonisten erlebt der Leser die Befriedigung, die Geschichte zu Ende erzählt zu bekommen. Wobei sich Carvalho oftmals der erzählerischen Technik der "Geschichte in der Geschichte" bedient, ohne den Leser den roten Faden verlieren zu lassen. Dabei schafft es der brasilianische Meistererzähler seinem Roman eine inhaltliche Kreisform zu geben, denn man könnte nach dem letzten Satz des Romans gleich wieder mit dem Lesen auf der ersten Seite beginnen. Weshalb das so ist? Das lesen Sie am besten selbst! Bernardo Carvalhos Roman ist eine Lesereise mit der Sonne - vom Land, in dem die Sonne aufgeht (Japan), in das Land, in dem die Sonne untergeht (Brasilien), und zurück - allemal wert.
Maria Merten
07.09.2009