Romane
Koryphäe Kaltenburg
Das ist kein Schaden, keinen Platz in der SPIEGEL-Bestseller-Liste der Bücher zu bekommen. Ein Schaden ist nur das gläubige Starren auf die SPIEGEL-Bestseller-Liste. Sie verhindert, daß mehr Literatur verkauft und gelesen wird. Das ist der Schaden. Die Leute fummeln sich durch „Feuchtgebiete“, statt ihre Aufmerksamkeit auf Jenny Erpenbeck oder Marcel Beyer zu konzentrieren. Das heißt auf Literatur. Literatur von literarischem Format. Sowas schleicht sich selten in die Spitze der Bestsellerliste des SPIEGEL.
Literatur von Format ist immer Literatur, die individuelle Geschicke als Teil der Geschichte zeigt, Geschichte als Teil individueller Geschicke. Was das für einem Schriftsteller wie Marcel Beyer bedeutet, bewies er auf bemerkenswerte Weise bereits mit „Flughunde“ (1995). Beachtlich ist, wie er das rege Wechselspiel zwischen Individuellem und Gesellschaftlichem auch für Leser erkennbar macht, denen sowohl die Geographie des Geschehens fremd ist wie die Zeitgeschichte. Wie dem Autor selbst. Jahrgang 1965, hat er wesentliche Ereignisse des 20. Jahrhunderts nur als Vermitteltes erfahren. Erstaunlich, wie der Schriftsteller in seinem neuen Roman „Kaltenburg“ reichsdeutsche, ddr-deutsche Historie zum Gegenstand der Literatur macht. Dann, wenn sein Ich-Erzähler, Hermann Funk, die häufig dokumentierte, geschilderte Nacht der Zerstörung Dresdens – 13. Februar 1945 – reflektiert. Dann, wenn die Hauptperson des Romans, Ludwig Kaltenburg, auf den Tod des Generalissimus Josef Wissarionowitsch Stalin am 5. März 1953 reagiert. Verblüffend ebenfalls, wie der Österreicher Kaltenburg, eine Koryphäe der internationalen Ornithologie, in Dresden lebend, in Leipzig lehrend, die Aufmerksamkeit für die Vögel zur Achtsamkeit für die jüdischen Menschen zwingt.
So gut Leser auch mit der deutschen Geschichte vertraut sein mögen, Beyer macht sie mit ihr vertrauter. Im Finden persönlicher, historisch bedeutsamer Geschehnisse voller Spürsinn, ist der Autor ihr erfindungsreicher Erzähler. Die Geschichten zur Geschichte die er erzählt, sind einzigartig in ihrer Bedeutung und eine Rarität in der Gegenwartsliteratur. Marcel Beyer hat eine schöpferische Potenz wie wenige der derzeit schreibenden Prosaschriftsteller. Seine Zeitkenntnis und Zeitkritik macht ihn zu einem der herausragendsten deutschsprachigen Autoren der Generation, die nach 1961 geboren wurde. Er unterscheidet sich erheblich von den vielberedeten erzählenden Egomanen der neunziger Jahre. In seinen lyrischen wie prosaischen Texten ist die Qualität, die Dauer verspricht. Waren alle Texte eine Vorbereitung auf den Roman „Kaltenburg“? Gewiß nicht! Obwohl Alles immer auch Vorbereitung auf das Kommende ist. „Kaltenburg“ ist das Konzentrat der ganzen Gewissenhaftigkeit, Ernsthaftigkeit und der Wissbegierde des Schriftstellers. Der Roman ist die Summe seiner erzählerischen Kompetenz.
Mit „Kaltenburg“ hat Marcel Bayer einen modernen Bildungsroman geschrieben. Der muß keinen Vergleich mit der gegenwärtigen deutschen Literatur scheuen, denn es gibt nichts Vergleichbares. „Kaltenburg“ ist kein Bildungsroman, weil ein Wissenschaftler die zentrale Figur ist. Selbstverständlich ist es Beyer, wie anderen Autoren vor ihm, soviel wie möglich zur Verantwortung der Wissenschaft, des Wissenschaftlers in den Zeitläufen zu sagen. Auch das macht nicht den modernen Bildungsroman. Und auch nicht, was der Schriftsteller an Spezifischem, also an Fachkundlichem zur Vogelkunde äußert. Die exzellente Sachkenntnis des Schriftstellers macht den Laien gelegentlich hilflos und verleitet zu kursorischem Lesen. Der Beyersche Bildungsroman ist der eines Gebildeten, der die sichtbaren Biegungen und Brechungen einer dominanten Persönlichkeit, wie der des Ludwig Kaltenburg, höchst prononciert erzählt. Schlichtet gesagt: Der Schriftsteller schildert auf ungewöhnliche Art ein ungewöhnliches Menschenschicksal. Ungewöhnlich ist nicht nur die Person, nicht nur ihre Profession. Ungewöhnlich ist, wie Marcel Beyer das Persönliche und das Politische in der beziehungsreichen Bedeutung darstellt. Und zwar so, daß vor allem ältere Leser ihre Biographie in Beziehung zum Roman bringen können. Das ist´s, was den Bildungsroman macht. Und die Sprache des Schriftstellers. „Kaltenburg“ einen Roman in Schönschrift nennen? Weshalb denn nicht? Zumal eine Masse heutiger Bücher mit ihrer simplen, trivialisierenden Alltagssprache wahrlich kein Beitrag zur Literatur sind. Das schöne Erzählen hat auch etwas mit den Rhythmisieren der Prosa zu tun, das Marcel Beyer geradezu beispielgebend beherrscht. „Kaltenburg“ ist dafür ein blendender Beweis, also die bravouröseste Leistung des Schriftstellers Marcel Beyer. Wenn auch kein SPIEGEL-Bestseller, so ist jetzt schon sicher, dass „Kaltenburg“ noch gelesen wird, wenn sich kaum jemand mehr der meisten Titel und Autoren der derzeitigen SPIEGEL-Bestseller-Liste erinnert.
Bernd Heimberger
19.05.2008