Krimis & Thriller
Dreißig Jahre Ungewissheit
Das Verschwinden der fünfzehnjährigen Lára im Sommer 1956 hat sich in das kollektive Bewusstsein Islands eingebrannt. Das Mädchen arbeitete im Haushalt eines Paares auf der einsamen und Reykjavik vorgelagerten Insel Viðey. Von einem auf den anderen Tag fehlte von ihr jede Spur. Sowohl die Bemühungen des damaligen Kommissars als auch weitere Recherchen in den folgenden Jahren brachten keine vielversprechenden Fährten hervor. Vor allem konnte kein Leichnam gefunden werden. Dreißig Jahre nach Láras Verschwinden versucht sich mit Valur ein junger Journalist an diesem isländischen "Cold Case". Was als mehrteilige Reportage zur Erinnerung an Lára beginnt, nimmt aufgrund von neuen und sehr ernstzunehmenden Hinweisen immer investigativere Züge an, bis kurz vor Valurs Durchbruch das Unfassbare geschieht.
Schlicht "Reykjavik" lautet der Titel des neuesten Romans von Islands Krimiautor Nummer Eins. Ragnar Jónassons Faszination für Kriminalgeschichten reicht zurück bis in seine Jugend. Bis zu seinem schriftstellerischen Durchbruch sollte es noch eine Weile dauern, doch seit nunmehr rund anderthalb Jahrzehnten beglückt er die Fans düsteren Nordic Crimes beständig mit neuen Fällen von der Insel im Nordatlantik. Hin und wieder bedient er sich etablierter Charaktere, doch dieses Mal führt er mit Valur und dessen Schwester Sunna neues Personal ein. Die Besonderheit des vorliegenden Romans liegt in der Co-Autorschaft mit der isländischen Premierministerin Katrín Jakobsdóttir, einer Freundin von Ragnar Jónasson. Während der Corona-Pandemie hatten sie zusammen die Idee entwickelt, ein gemeinsames Buch zu schreiben, und es - gesagt, getan - kurzerhand in die Tat umgesetzt.
Die beiden Autoren haben in "Reykjavik" einen illustren Kreis an Personen in Szene gesetzt. Der besagte Ehemann des Paares, bei dem Lára einst in Stellung war, hat auf Island ebenso Karriere gemacht wie einige seiner Freunde, die ein undurchdringbarer Männerbund zusammenzuhalten scheint. Immer wieder prallen die verantwortliche Kriminalpolizei und neugierige Journalisten auf Mauern des Schweigens. Doch Ansatzpunkte sind auch drei Jahrzehnte nach Láras Verschwinden scheinbar rar gesät, bis sich schließlich eine Frau anonym bei Valur meldet und ihm Antworten ankündigt. Für die Wochenzeitung, für die Valur schreibt, kommt diese Story einem Sechser im Lotto gleich. Doch Valur scheint nicht zu ahnen, wie wichtig es einigen Menschen ist, die Wahrheit unter Verschluss zu halten.
Die 350 Seiten im vorliegenden Buch vergehen wie im Flug. Ragnar Jónasson und Katrín Jakobsdóttir halten sich weder mit schnörkeligen Beschreibungen auf noch spannen sie unnötige Handlungsstränge. Vom ersten Moment an fährt "Reykjavik" voll und kerzengerade auf Spannungskurs. Darin ähnelt dieses Buch den bisherigen Kriminalromanen von Ragnar Jónasson, auch dort ist das Set an handelnden Personen überschaubar, aber stets völlig ausreichend. So kann es tatsächlich passieren, dass man "Reykjavik" an einem oder zwei Abenden durchpflügt. Die Augenringe am kommenden Morgen sind es allerdings definitiv wert.
Es ist mehr als bemerkenswert, dass Islands Premierministerin und der erste Schriftsteller des Landes Filz und Korruption in Islands Gesellschaft aufs Korn nehmen. Man stelle sich nur vor, dass Angela Merkel sich mit Sebastian Fitzek zusammengetan und einen derartigen, in Deutschland spielenden Roman verfasst hätte. Doch lässt sich die Struktur auf einer Insel mit knapp 400.000 Einwohnern und einem einzigen Zivilisationszentrum sicherlich nicht mit Multi-Millionen-Gesellschaften vergleichen. Gerade dies macht jedoch den Charme Islands und des vorliegenden Buchs aus. "Reykjavik" ist ein fesselnder "Cold-Case-Krimi", der mit seiner Handlung im Jahre 1986 überdies einen sympathischen Blick in eine längst vergessene Zeit bereithält.
Christoph Mahnel
25.03.2024