Dramen

Kritik an der bürgerlichen (Schein-)Moral

Der Schriftsteller und Schauspieler Frank Wedekind (1864-1918) war aufgrund seiner Literatur ein Dorn im Auge der deutschen Obrigkeit. Im Jahre 1898 musste er sogar nach Paris flüchten, weil er zuvor ein satirisches Gedicht über Kaiser Wilhelm II. verfasst hatte. Aber auch seine dramatischen Werke riefen zwiespältige Reaktionen hervor: zum einen die begeisterte Aufnahme der Stoffe durch spätere Autorenkollegen, zum anderen Zensur seitens des Staates. Nicht umsonst gehört zumindest Wedekinds Hauptwerk "Frühlings Erwachen" zur Pflichtlektüre an Deutschlands Schulen, während "Lulu" leider meist viel zu kurz - wenn denn überhaupt - durchgenommen wird. Der Grund hierfür wird einem beim Lesen des vorliegenden Buches aus der Edition Fischer Klassik deutlich werden.

Bereits beim Aufschlagen des Buches wird sich der Rezipient verwundern, denn "Lulu" ist kein Stück wie die anderen: Das Drama besteht aus zwei Teilen ("Erdgeist" und "Die Büchse der Pandora"), die im Abstand von neun Jahren entstanden sind. Der Grund hierfür mag in der Komplexität der Thematik liegen. Bereits der "erste Teil" besticht durch eine tragische Handlung, ist gespickt mit (sexuellen) Andeutungen und sorgte nach seiner Veröffentlichung für einen (moralischen) Aufschrei innerhalb der deutschen Bevölkerung. Vertieft wird das Thema dann im darauf basierenden "zweiten Teil". Die Aussage dieses Werkes wird dem Leser schnell klar: Wedekind kritisiert in "Lulu" die herrschende bürgerliche Scheinmoral, in Gestalt der Hauptfigur Lulu. Zudem ist das Werk ein Aufruf zur Selbstentfaltung und Emanzipation - im Deutschland des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts eigentlich eine Unvorstellbarkeit.

Ähnlich einflussreich wie "Lulu" ist Wedekinds gesellschaftskritisch-satirisches Drama "Frühlings Erwachen". Thematisiert werden die Probleme innerhalb der Pubertät, insbesondere sexuelle Regungen und psychische Instabilität, die sicherlich jeder Mensch in seinem Leben einmal erfahren hat. Das offensichtliche Motiv der beginnenden Sexualität wird verknüpft mit der für Wedekind so typischen Kritik der bürgerlichen Sexualmoral. Zensur und Verbot verhinderten allerdings die meisten Aufführungen zu Wedekinds Lebzeiten. Heutzutage hingegen gehört diese "Kindertragödie" zur Pflichtlektüre an zahlreichen Schulen.

Mit "Lulu" und "Frühlings Erwachen" hat Frank Wedekind zwei Dramen geschaffen, die durch ihre psychische und moralische Tiefe bis heute den Rezipienten beeindrucken. Wie kein Zweiter hat der Schriftsteller öffentlich Anstoß an seiner Gesellschaft genommen und dies literarisch verarbeitet. So hochwertig wie der Inhalt ist auch das Buch an sich gehalten. Die Konzentration liegt zweifellos auf den Dramen, wer sich aber tiefer mit diesen beschäftigen möchte, kann zusätzlich den Anhang nach etwaigen interessanten Informationen durchforsten. Dieser enthält die Daten zu Wedekinds Leben und zu seinem literarischen Schaffen sowie die Werkbeiträge zu beiden Dramen im neuen "Kindlers Literatur Lexikon". Zum einen werden die ausgewählten Theaterstücke in ihren zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext gestellt, zum anderen werden Interpretationsansätze angeboten, die das Leseinteresse weiter anfachen. Die Edition Fischer Klassik zeigt anhand von Wedekinds "Lulu / Frühlings Erwachen", dass Weltliteratur stets aktuell und somit zeitlos ist.

Susann Fleischer
02.11.2009

 
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Das Buch:

Frank Wedekind: Lulu / Frühlings Erwachen

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Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2008
288 S., € 8,50
ISBN: 978-3-596-90059-6

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