Dramen

Ein Bühnenstück, das weit über fesselnde Unterhaltung hinausgeht

Die Schweizer Sage um Johann Chaldar (laut https://www.maerchenstiftung.ch), gekürzt hier wiedergegeben:

"Eines Tages im Jahre 1424 ritt der Junker von Fardün ins Tal hinab. Auf dem Wege fiel ihm die schöne, reinlich gehaltene Hütte des Bauern Johann Chaldar in die Augen. Er haßte diesen freien Sohn der Berge besonders, weil er ihm einst zwei Pferde, die er in seine Saat hatte treiben lassen, erstach. Und obwohl er ihn damals jahrelang in seinem Burgverlies hatte hungern und frieren lassen, haßte er ihn immer noch, denn er sah wohl, daß der freie Sinn des armen Hirten noch nicht gebrochen war. Doch er wollte ihn noch zähmen. Er gedachte daher, ihn zu reizen und ihn dann, wenn er ihm ungebührlich komme, wieder in den dunklen Schloßkerker werfen zu lassen, aus dem er nie mehr lebend hervorgehen sollte. So bog er denn plötzlich vom Wege ab und ritt auf die Hütte zu.

Dort stieg er ab, trieb sein Roß lachend in die eben wieder grünende Saat und trat dann in die Hütte des Landmannes. Dieser saß gerade mit Frau und Kindern um den Tisch, auf dem ein großes Holzgefäß voll Brei dampfte. Als sie das Tischgebet gesprochen hatten, erschien der Junker von Fardün in der Stube. Der Bauer Chaldar erhob sich und lud ihn ehrerbietig ein, am Tische Platz zu nehmen und mitzuhalten, wenn ihm ihre ärmliche Speise nicht zu gering sei ..."

Autor Reinhard Pantel hat diese Sage zu sein Eigen gemacht, indem er zum einen die handelnden Hauptfiguren umdreht.

Und so ist die Inhaltsangabe nach Reinhard Pantels Bühnenstück wie folgt:

1. Akt: Drei Personen des gehobenen Standes sind miteinander gut befreundet und treffen sich auf der Bärenburg bei Donath, um sich wieder einmal nach langer Zeit zu sehen, und um sich zwangslos und frei über Gott, den Papst und die Welt auszutauschen. Es sind: Heinrich von Guardavoll, der Burgvogt der Bärenburg als Gastgeber, Bernhard Werdmüller, ein Abgesandter der Stadt Zürich und Ferdinand Zwyer, ein Abgesandter der Stadt Luzern. Mit Blick auf das Geschehen in Südtirol, wo Adlige 1406 den "Elefantenbund zur wechselseitigen Unterstützung gegen jeder-mann" gegründet, und diesen dann ein Jahr später zum "Falkenbund" [1407] erweitert hatten, stellen die Adligen auf der Bärenburg innerhalb ihrer eigenen Schweizer Bauernschaft eine zunehmende "Aufmüpfigkeit" fest. Man erkennt rechtzeitig die Gefahrenlage und versucht nun, die Ursachen dieser Bauernunzufriedenheit zu ergründen, um vorsorglich einen ähnlichen Text wie den beim "Falkenbund" zu entwerfen.

Der Reitunfall eines (charakterlich unreifen) Junkers aus Fardün, der sich gerade als Gast auf der Bärenburg aufhält, führt zur ausgeschmückten Bühnendarstellung der Sage "Johann Chaldar": Der Junker hat es auf die Tochter des Bauern Johann Chaldar abgesehen, die er mit einem Schmuckstück, als Entlohnung für deren Erste Hilfe bei seinem schweren Reitunfall gedacht, diese zu verführen beabsichtigt. Falls aber sie sich sträuben sollte, "soll es ihre Familie büßen!"

2. Akt: Die Bauern im Hinterrhein feiern (mit Musikanten) den Beginn des Sommers. Am Ende des Gottesdienstes bleiben einige Bauern vor dem Kirchenportal stehen und tauschen Neuigkeiten aus. Man erzählt sich, Chaldars Tochter habe die Annahme des Geschenks, das ihr der Junkers für deren Erste Hilfe bei seinem Reiterunfall habe geben wollen, nicht angenommen, worauf sich der Junker beleidigt fühlte und aus Wut darüber, mit seinem Pferd den gerade frisch eingesäten Acker des Bauern Chaldars derart zertrampelt habe, dass dieser den Acker neu habe einsäen müssen. Dann, kaum wäre die Saat aufgegangen, habe der Junker sein Pferd das junge Grün abfressen lassen: So könne es nicht weitergehen, hätte. Chaldar gesagt und sich beim Burgvogt über das Verhalten des Junkers beschwert, aber bis heute keinen Bescheid von dort oben erhalten.

Vor dem Kirchenplatz rührt der Bauer Chaldar in einem großen Kessel über einem Feuer eine dicke Erbsensuppe ein, die für alle Festteil-nehmer gedacht ist. Da erscheint plötzlich der Junker auf dem Platz, tritt zum Kessel, um zu sehen, was hier gerade heiß gemacht wird. Er behauptet, es fehle da noch für die Schweine ein wichtiges Gewürz und spuckt in den Kessel. "Jetzt müsse er aber die Suppe auch noch abschmecken", sagt Chaldar, packt den Junker kräftig am Kopf und taucht diesen tief in die heiße Suppe.

3. Akt: Der Burgvogt hat für die heute anberaumte Zusammenkunft einen Entwurf einer Grundsatzerklärung ("Korpus Juris") vorbereitet, den er aus der Perspektive der Regierenden, des Adels, der Landesfürsten, sowie auch aus der Sicht der freien Bauernschaft abgefasst habe. Da es zu diesem Entwurf keine Änderungs-wünsche gab, soll nun bei einer einzuberufenden Versammlung, die jetzt aber nicht, so wie damals [8.11.1407] auf dem Rütli, sondern nun am Ufer des Vierwaldstättersees stattfinden soll, um dort diese Grundsatzerklärung allen zur Diskussion zu stellen. Der Text des "Korpus Juris" [1424] soll lauten:

I. In notwendigen Dingen soll in unserem Bundesgeflecht - mit all seinen lokalen, überregionalen und unterschiedlichsten Machtinteressen, das eine nur gelten: Die Einheit unseres Landes
II. In den fraglichen Dingen, die sich im Zusammenleben aller Handelnden ergeben, soll gelten: Die Freiheit unseres Gewissens und Handelns.
III. Das Zusammenspiel von Einheit und Freiheit, dieses soll getragen werden im Für- und Miteinander.

Besonderheit von Reinhard Pantels Bühnenstück "Johann Chaldar (1424)"

Von anderen vergleichbaren Werken hebt sich Reinhard Pantels "Johann Chaldar (1424)" durch mehrere Merkmale (wohltuend) ab. Da sind zum einen die sprachlichen Feinheiten des Bühnenstücks. Diese regen dazu an, die Zeilen wiederholt zu lesen, ohne dass so etwas wie Langeweile aufkommt. Und das aus gutem Grund: Mit jeder weiteren Lektüre ist hier etwas Neues zu entdecken. Man füttert sein Geschichtswissen nachhaltig, zehrt länger von diesem und wird dazu aufgefordert, sich weitergehend mit dem Thema und mit der Schweizer Geschichte zu beschäftigen. Ein Kunststück, das seinesgleichen sucht!

Die Erzählperspektive: Statt der titelgebenden Figur Johann Chaldar (der auf den Seiten lediglich einen Kurzauftritt hat) haben die Mächtigen der Region Graubünden das Wort. Und sie stehen dabei nicht als die Bösen da. Man denke an "Wilhelm Tell", Gerhart Hauptmanns "Die Weber" und weitere Dramen, die aus Sicht der niederen Bevölkerung geschrieben sind. Was so einzigartig an Pantels Coup ist? Man entwickelt Verständnis für die Machthaber, erkennt, dass diese für ihre Untertanen meist nur das Beste wollen.

Pantel verbindet Geschichte und Unterhaltung zu einer fesselnden, einzigartigen Lektüre, die darüber hinaus Bilder im Kopf entstehen lassen, sodass Kopfkino par excellence garantiert ist. Und eben von diesem fühlt man sich ganz schwindelig. Da fällt es nach dem Lesen schwer, ins Hier und Jetzt zurückzukehren. Und wenn, dann beschäftigt man sich mit dem Drama noch weiter. Allein, um sein Geschichtswissen aufzuarbeiten.

Das sind nur drei von ganz vielen Gründen, weshalb man Reinhard Pantels "Johann Chaldar (1424)" unbedingt lesen sollte.

Historie als literarisches Ereignis

Geschichtswissen so literarisch zu verarbeiten und dem Leser näher zu bringen - das zeugt von wahrem Können. Reinhard Pantel ist ein nahezu unschlagbar-genialer Meister darin; definitiv vergleichbar mit Friedrich Schiller und wenigen anderen seines Fachs. Die Lektüre seines Bühnenstücks mit drei Aufzügen "Johann Chaldar (1424)" sorgt für grandiosestes Kopfkino vom ersten bis zum letzten Satz. Vor dem inneren Auge setzt sich Szene für Szene zu einem spannenden Drama zusammen, zugleich erfährt man interessante Details über die Schweizer (National-)Historie. Solche Unterhaltung hat Seltenheit, sowohl auf dem eBook-Markt wie auch auf den Theaterbühnen Deutschlands. Das bewiesen Pantels Werke "Canossa (1077)" und "Faust II a" schon zuvor eindrucksvoll. Also, Hut ab!

Autoren wie Reinhard Pantel gibt es höchstens eine Handvoll im deutschsprachigen Raum. Und das ist mehr als schade. Umso glücklicher kann man sich schätzen, wenn von dem genannten ein neues Bühnenstück in zumindest digitaler Form erscheint. "Johann Chaldar (1424)" gehört zu DEN Entdeckungen der letzten Jahre. Allerdings eine mit einem kleinen Wermutstropfen: Es hätten auch gerne deutlich mehr als die 49 Buchseiten sein dürfen. Im Rausch beginnt man mit der Lektüre sofort von vorne, kaum beim letzten Satz angekommen. So etwas gelingt nur den wenigsten Veröffentlichungen.

Susann Fleischer 
27.11.2023

 
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Das Buch:

Reinhard Pantel: Johann Chaldar (1424). Ein Bühnenstück mit drei Aufzügen (eBook)

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München: ciando.com 2016 49 S. ISBN: 978-3-96134-008-8

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