Medien & Gesellschaft

Vom Gefühl einer Zeit

Genau fünfzig Jahre vor der im bevorstehenden Sommer hierzulande stattfindenden Fußball-Europameisterschaft war einst sogar die ganze Welt zu Gast in der Bundesrepublik Deutschland. Zumindest die fünfzehn - neben dem Gastgeber - qualifizierten Nationen spielten vom 13. Juni bis zum 7. Juli 1974 um den Titel bei der zehnten Fußball-Weltmeisterschaft. Gerade rund ums Jubiläum zum halben Jahrhundert sind viele Geschichten dazu rauf und runter erzählt worden, und kopfschüttelnd wird man es immer noch fassen, dass ein zwar mit Weltklassespielern gespickter, aber dennoch ganz schön zerrütteter Haufen es geschafft hat, den fabelhaften Holländern den sicher geglaubten Titel zu entreißen. Wegweisend war dafür ein politisch einmaliges Ereignis, das für den Gastgeber mit dem Super-GAU endete, aber letztlich für die Mannschaft von Bundestrainer Helmut Schön nach faden Auftritten zu Beginn den Umschwung markieren sollte.

Die Rede ist natürlich vom deutschen Duell in der Vorrundengruppe I, das am 22. Juni 1974 im Hamburger Volksparkstadion die Mannschaften der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zum Tanz bat. Zwar wusste man in der damals bei weitem noch nicht so transparenten Fußballwelt um die Stärken des Fußballs in der DDR, doch sollte dies den Ausgang des Spiels nicht in Frage stellen. Nur wenige Wochen zuvor hatte der 1. FC Magdeburg den Europapokal der Pokalsieger gewonnen, auch die DDR-Olympiaauswahl war bei den Spielen von München anno 1972 bis unter die letzten Vier vorgestoßen und hatte dabei die westdeutsche Auswahl bezwungen. Doch was wollten formstarke Croy und Streich gegen Maier, Müller, Beckenbauer und Netzer bewirken? Die Geschichte des Spiels ist hinlänglich bekannt: Sparwasser macht spät das Tor des Tages, die DDR wird Gruppensieger und zieht in die schwerere Finalrundengruppe ein, während Deutschland dank des Schusses vor den Bug die Wende einleitet und mit vier Siegen in Folge schließlich zum zweiten Mal in seiner Geschichte Fußball-Weltmeister wird.

Pünktlich zum fünfzigsten Jahresring ist ein würdiges Buch zu dem bedeutendsten innerdeutschen Sportereignis während der Teilung Deutschlands erschienen, und mit Ronald Reng hat sich der sicherlich prominenteste deutsche Fußball-Autor dieses Themas angenommen: "1974 - Eine deutsche Begegnung" lautet der Titel des im Piper Verlag herausgegebenen Werks. Ronald Reng hat vor mehr als zwei Jahrzehnten mit "Der Traumhüter" einem Paukenschlag gleichkommend die Bühne betreten. Sein wohl größtes Buch ist die gemeinsam mit Teresa Enke erschienene Biografie von Robert Enke, ein Jahr nach dessen Freitod. Weitere seiner Bücher zu Miroslav Klose, der Geschichte der Bundesliga oder den rauen Gepflogenheiten im Spielerberater-Business haben dazu geführt, dass die Ankündigungen von Neuerscheinungen aus Rengs Feder sogleich erhöhte Aufmerksamkeit erfahren.

Doch in seinem neuesten Werk war es ihm offensichtlich wichtig, den Fußball und dieses eine Spiel in einen gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Kontext zu setzen. So führt Reng viele scheinbar nicht mit dem Spiel in unmittelbarem Zusammenhang stehende Charaktere ein, deren Nähe und Bedeutung er erst sukzessive aufbaut. Genauso behutsam bewegt sich der Autor durch die neunzig Minuten von Hamburg. Dabei legt er einige erhellende Informationen zum Spielgeschehen vor und lässt tief in so manche Spieler von West und Ost blicken. Netzers Formsuche, Overaths Selbstzweifel und Hölzenbeins Geduld werden hierbei intensiv thematisiert. Zusätzlich zu den 22 Protagonisten auf dem Platz wirft Reng einige weitere Personen ins Spielgeschehen, unter anderem Matthias Brandt, den Sohn des kurz zuvor zurückgetretenen Bundeskanzlers, André Krüger, den verrückten Australien-Fan, oder Jutta Wachowiak, eine Schauspielerin, die an jenem Samstagabend "Die neuen Leiden des jungen W." am Deutschen Theater in Ost-Berlin aufführte.

Mit Fußballern und Nicht-Fußballern zeichnet Reng ein starkes und vielschichtiges Bild einer geteilten Nation im Jahre 1974. Externe Bedrohungen durch die RAF im Westen, interne Bedrohungen durch einen perfiden Überwachungsapparat im Osten, eine breite Palette von Freiheiten und Sorgen aller Deutschen und eine bei weitem noch nicht überhöhte Bedeutung des Fußballs kennzeichnen das Jahr der ersten Fußball-Weltmeisterschaft auf deutschem Boden. Ronald Reng hat alles gut beobachtet, eingefangen und in eine Komposition gepackt, die neue Maßstäbe für Fußball-Literatur definiert. "1974 - Eine deutsche Begegnung" setzt einen Samstagabend Ende Juni 1974 facettenreich in Szene und lässt das Gefühl einer gesamten Nation in dieser Epoche greifbar werden. Rengs Buch erfährt eine Empfehlung gleichermaßen für alle Fußball-Fans sowie für alle Nicht-Fußballbegeisterten.

Christoph Mahnel 
22.04.2024

 
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Das Buch:

Ronald Reng: 1974 - Eine deutsche Begegnung

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München: Piper Verlag 2024 432 S., € 24,00 ISBN: 978-3-492-07219-9

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