Medien & Gesellschaft

Video Killed the Radio Star

Vor vielen, vielen Jahren in einem Zeitalter vor Youtube und Spotify waren Musikfans noch davon abhängig, welche Musikinhalte in den linearen Medien - die man damals freilich noch nicht so nannte - angeboten wurden. Ein Quantensprung bedeutete seinerzeit die Etablierung des Musikfernsehens, von Sendern, die fast ausschließlich Musik und Musikvideos spielten. Vorreiter hierbei war natürlich MTV, kurz für "Music Television", ein Sender, der am 1. August 1981 das Licht der Welt erblickte und das Leben vieler Heranwachsender nachhaltig prägte. Hierzulande kam man dank Kabel- und Satellitenfernsehen Mitte bis Ende der Achtziger peu à peu in den Genuss von MTV. Nachdem man aus dem Staunen darüber herausgekommen war, gelangten schließlich lokale Interessen und Aspekte in den Fokus. Mit der Gründung von VIVA im Jahre 1993 war dann auch der erste deutsche Musik-Fernsehsender an den Start gegangen und begann, dem Platzhirsch MTV allmählich das Wasser abzugraben.

Die Neunziger waren das Jahrzehnt des Musikfernsehens, schließlich steckte das Internet mit seinen Möglichkeiten noch in den Kinderschuhen. Bei vielen Heranwachsenden und Musikinteressierten liefen MTV und VIVA in der Dauerschleife, Ray Cokes und Heike Makatsch mutierten zu Englischlehrern und Stilikonen. Doch warf das bevorstehende Informationszeitalter bereits seine Schatten voraus, die schlichte Abfolge von Musikvideos 24 Stunden lang und sieben Tage pro Woche war irgendwann nicht mehr zeitgemäß. Neue Konzepte mussten her, die Diversität in den Zielgruppen verlangte Zweit- oder Drittkanäle. Knallharte Businesspläne forderten Spitzenquoten, der Idealismus der Macher war ROI's und KPI's gewichen. Gegenseitige Abwerbungen von Spitzenkräften, feindliche Übernahmen, dazu die Bedrohung durch Internet und Streaming-Möglichkeiten läuteten den Abgesang des Musikfernsehens ein, das heute nur noch ein Schattendasein führt.

Markus Kavka und Elmar Giglinger erzählen in ihrem gemeinsam herausgebrachten Buch "MTViva liebt dich!" die verrückte Geschichte des Musikfernsehens in Deutschland. Kavka war seinerzeit eines der Gesichter dieses Genres. Als Jahrgang 1967 war er zunächst journalistisch in Sachen Rock und Metal tätig, doch schwang er bei VIVA rasch zu einem der gefragtesten VJ's auf. Später wechselte er wie so viele seiner Zunft die Fronten und war ab dem Jahre 2000 bei MTV tätig. Kavka ist ohne Zweifel der Dauerbrenner des deutschen Musikfernsehens und hat verständlicherweise Beziehungen und Hintergrundwissen wie kein Zweiter. An seiner Seite für das vorliegende Buch wirkte mit Elmar Giglinger zwar kein VJ mit, doch ein Mann, der als Programmdirektor und in noch gewichtigeren Rollen bei VIVA und MTV entscheidend die Fäden im Hintergrund zog.

Dass die "elektrisierende Geschichte des deutschen Musikfernsehens" - so der gewählte Untertitel - umfangreich gewesen sein muss, wird gleich offensichtlich: Mehr als 500 Seiten umfasst das bei Ullstein extra erschienene Buch. Die von den beiden Autoren gewählte Erzählform ist auf jeden Fall ungewöhnlich und eher vom Fernsehen her bekannt, wenn fortlaufend Sequenzen von Videointerviews zusammengeschnitten werden und den roten Faden der Erzählung bilden sollen. So auch hier: Bis auf sehr wenig Informationseinschübe sind es Zitate und Erzählungen aus der Perspektive von beteiligten Personen, die aneinandergereiht werden. Es braucht durchaus eine gewisse Zeit, diesen Erzählstil zu verinnerlichen und schätzen zu lernen. Denn es sind die Erlebnisse und Anekdoten der Protagonisten, die viel besser ein Bild dieser wilden Zeit vermitteln können als jede dokumentarische Ausarbeitung in Aufsatzform.

"MTViva liebt dich!", übrigens auch eine Textzeile aus einem Lied der Band "Selig", entführt den Leser in eine Zeit, die für die meisten noch weitestgehend unbeschwert gewesen sein dürfte, und lässt ihn dabei unzähligen Menschen begegnen, mit denen man einst so viele Nachmittage und Nächte verbrachte. Doch hält dieses Buch darüber hinaus viele Einblicke bereit, die sich einem einst als Zuschauer so nicht offenbarten. Die mit der Zeit zunehmende Politik im Hintergrund bedeutete irgendwann das Ende der Spaßgesellschaft von Nils Bokelberg, Heike Makatsch oder Aleks Bechtel. Die Macht der Sender wuchs und trieb damit auch einen Keil zwischen Bands und Promoter auf der einen sowie den Moderatoren und Redakteuren auf der anderen Seite. Doch gefeiert wurde scheinbar hemmungslos, mehr Details gibt's hierzu vor allem in den Kapiteln über VIVA Zwei.

Christoph Mahnel 
20.11.2023

 
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Das Buch:

Markus Kavka, Elmar Giglinger, MTViva liebt dich! Die elektrisierende Geschichte des deutschen Musikfernsehens

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Berlin: Ullstein extra 2023 528 S., € 21,99 ISBN: 978-3-86493-249-6

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