Biographie
Bruchstelle Bayreuth
"Es gibt nichts Wirklicheres als die Welt in den Farben des Abschieds." Den Satz hat die Schriftstellerin Kerstin Decker in ihr Buch "Nietzsche und Wagner" hineingeschrieben. Also nicht nur hingeschrieben. Nicht nur in eine weitere Biographie zu Nietzsche, zu Wagner, zum freundschaftlichen wie feindlichen(?) Miteinander der beiden M?nner. Den einen Philosoph, den anderen Musiker zu nennen, hei?t, ihre Professionen nur ungenau zu bezeichnen. Das ist nicht im Sinn von Decker und ihrem Streben.
Die "Farben des Abschieds" leuchten zu lassen, bedeutete f?r die Verfasserin, sich ordentlich ins Schreibzeug zu legen. Sie hat?s getan. Und wie! Kerstin Decker hat den Lesern keine beliebige Biographie ?bergest?lpt, wie sie aus dem Amerikanischen oder Englischen permanent ins Land gepustet werden. Wenn schon Biographie, so wird "Nietzsche und Wagner" dennoch nicht als Biographie pr?sentiert. Decker besichtigt und illustriert die Lebensl?ufe der beiden, die wie eine Z?ndschnur am Dynamit des 19. Jahrhunderts lagen. Zwei geistesverwandte, ungleiche M?nner zweier Generationen, die innig-einig in ihrer Gemeinschaft wie Gegnerschaft waren.
Von der "Geschichte einer Hassliebe" sprechen, wie auf dem Titelblatt zu lesen? Der Untertitel muss die Verfasserin ?berwindung gekostet haben. Er ist ein Widerhacken zu der differenzierten, analytischen Darstellung. Dennoch kann der unn?tige Untertitel das Buch nicht auf den Boden der Klischees holen, von dem es Kerstin Decker durch ihre gesamte Arbeit fernh?lt. An Klischees zu scheitern, die sie nicht produzierten, das ist Nietzsche und Wagner wiederholt gelungen. Decker kennt die Klischees und ihre gef?hrlichen S-Kurven. Die "Farben des Abschieds" in der Begegnung Nietzsche - Wagner klaren Auges zu sehen, ihre Spektren zu erkennen und zu beschreiben, ist das Eigentliche der Leistungen, die das Buch leistet.
Die Verfasserin verzichtet darauf, eine l?ckenlose Chronik beider Biographien zu liefern, ohne auf einen soliden, straff gespannten Rahmen zu verzichten. Den machen der 8. November 1869 und der 7. November 1876 (!). Nietzsche ist gerade f?nfundzwanzig geworden, Wagner im 56. Lebensjahr. Sohn trifft auf Vater, wenn man so will. Eine Konstellation, die jeden Psychologen auf den Plan ruft. Decker gibt nicht die Psychologin und verschenkt ihr psychologisches Wissen nicht. Sie l?sst sich nicht dazu verleiten, es mit einer Gruppentherapie zu versuchen. Zu der auch Ludwig II. von Bayern und Cosima Wagner, geborene Liszt und geschiedene von B?low, hinzuzuziehen w?ren. Diese vier sind die Protagonisten der achtj?hrigen, unmittelbaren Beziehung zwischen Nietzsche und Wagner. Acht Jahre? Acht Jahre, die die Welt bedeuteten. F?r die Welt, die dazumal das altvertraute Mitteleuropa war. F?r die Heroen mit und ohne Herrschaftssitz.
Als der f?r den ?lteren gezimmert wurde, geschah das Unerwartete. Entt?uschung machte sich bereit. Bayreuth f?hrte zum Bruch. Die Abendd?mmerung der Nietzsche-Wagner-Freundschaft begann. So weit gekommen, notiert Kerstin Decker mit analytischem Verstand, dem gem??en Verst?ndnis, an passender Stelle, dass es nicht m?glich ist, "einen Staat auf Musik zu gr?nden". Schon gar nicht auf der Musik Wagners? Wissen wir zu viel? Wir wissen! An anderer Stelle kann die Schriftstellerin daher ungestraft feststellen, dass Nietzsche und Wagner "gro?e Hysteriker vor dem Herrn" waren und vielen auf dem Nerv bohrten wie auf einem entz?ndeten Zahn. Was die Lebens- und Weltdramen der Herren dauerhaft bestimmte, formulierte der Amerikaner Tennessee Williams mit einem einzigen Satz: "Leben ist lebensl?nglich Einzelhaft." Geringf?gig variiert hat Kerstin Decker den Satz aufgenommen. Er ist ein Postulat. Fast vers?hnlicher h?rt sich eine abschlie?ende Bemerkung der Autorin an, die Nietzsche nah ist, von dem sie sagt: "Nietzsche hasst die Wagnerianer." Was das hei?t? Ein Monument ist ein Monument ist ein Monument! Klein wird alles im menschlichen Denken.
Kerstin Decker wird auch deutlich, wenn sie sagt, als was sie "Nietzsche und Wagner" gesehen wissen will. Sie spricht von einer Studie. Recht so! Das Buch ist eine versierte Studie der ?u?eren wie inneren Geschicke der M?nner, die eher ihre Menschenpflichten als Menschenrechte wahrnahmen. M?nner, die das Ma? der Pflichten zum Ma? aller machen wollten.
Mit jeder Biographie, der sich Kerstin Decker n?herte, nahm sie einiges auf sich. Die ausgew?hlten Personen (u.a. Else Lasker-Sch?ler) boten beeindruckenden Stoff f?r beeindruckende Pers?nlichkeitsportr?ts. Biographien sind bei Decker Blicke ins Gesicht. Menschen sehen, hei?t, sich durch keine Masken und Verkleidungen t?uschen zu lassen. Wenn in "Nietzsche und Wagner" etwas sensationell ist, dann sind es die Tatsachen. "Nietzsche und Wagner" ist nicht in die Reihe langl?ufiger Biographien zu stellen. Mit dem Buch ist ein ungew?hnliches Buch ins Haus gekommen.
Kerstin Decker ist eine eigenst?ndige, kreative Autorin, die biographische Stoffe nicht im Schlepptau hinter sich herzieht. Sie macht sich jeden Stoff nicht nur zu eigen. Sie formt ihn. Das macht ihre schriftstellerische Souver?nit?t aus. Kerstin Decker ist eine Gebildete, die Gebildete bildet. Geistreich, wie sie ist, erm?det sie nicht, solange sie eine geistreiche Anregerin ist. Sie t?rmt kein Pathos auf, solange sie die prosaische Poesie vertieft. Dass die deutsche Sprache "doch ein Instrument der Intimit?t" ist, muss Decker nicht gesagt werden. Ihr Schreiben ist virtuoses Schreiben. Kerstin Deckers Sprache hat den Rhythmus der Sprache rhythmisiert. Eine Sprache, die nicht nur eine Aneinanderreihung der Worte ist, die Informationen von A nach B transportieren. Am?siert, um nicht zu sagen, bisweilen sp?ttisch, wird analysierend, kritisierend der Heiligenschein ?ber den heiligen Nietzsche und Wagner von der B?hne ins Parkett gezogen.
Bernd Heimberger
29.10.2012