Biographie

Verliebt in Günther Koch

Ein hoher Wiedererkennungswert bei Stimmen ist ein sehr seltenes Gut. Sicherlich gibt es immer wieder Stimmen, von denen man beim Hören glaubt, dass man sie ganz sicher kenne. Doch bleibt es in der Regel dabei und ein Erkennen und Benennen des Stimmeninhabers gelingt schließlich nicht. Ist hingegen das Gehirn in der Lage, eine abgespeicherte Stimme eindeutig zuordnen zu können, dann muss diese Stimme tiefe Spuren im Gedächtnis hinterlassen haben. Eine solche Stimme ist zweifelsohne diejenige von Günther Koch, der "Stimme Frankens". Wer einmal eine samstägliche Schlusskonferenz zu den Spielen der Fußball-Bundesliga verfolgt hat, ist in den Achtziger und Neunziger Jahren, aber auch noch in diesem Jahrtausend zwangsläufig mit der sonoren Stimme Günther Kochs konfrontiert worden. Seine Schilderungen vom Treiben auf dem grünen Rasen des Münchener Olympiastadions, vor allem aber aus dem Städtischen Stadion in Nürnberg waren stilprägend und garantiert einzigartig.

Koch, Jahrgang 1941, studierte einst in jungen Jahren Lehramt in München und trat schließlich anno 1964 seine erste Stelle in Nürnberg an. Fußball war von Kindesbeinen an die große Leidenschaft des Pädagogen. Mit einer ordentlichen Portion Selbstbewusstsein ausgestattet schrieb Koch Mitte der Siebziger Jahre den Bayrischen Rundfunk ob vieler als schlecht empfundener Radioreportagen an und bot sich sogleich selbst an. Ein etwas holpriger Start Kochs bei Proben und ersten Übertragungen verhinderte glücklicherweise nicht die schließlich mehr als drei Jahrzehnte währende Karriere im Zweitjob. Günther Koch war ein Mann am Mikro mit einem Maximum an Leidenschaft, die er hineinwarf in seine Reportagen. Kochs Hörer wurden durch dessen Formuliertalent und die emotionalen Schilderungen in den Bann gezogen, so dass sie nicht umhinkonnten, mit dem Nürnberger Club, mit den Münchner Bayern zu leiden und zu jubeln. Obgleich ihm nur sehr wenige Länderspiele und keine EM oder WM vergönnt waren, ist Günther Kochs bundesweite Popularität ungebrochen, sogar über die Landesgrenzen hinaus wird Koch verehrt und geschätzt.

"Wir melden uns vom Abgrund" ist nicht nur ein legendärer Ausspruch Günther Kochs, sondern auch der Titel eines druckfrischen Buches aus der Feder von Jürgen Roth. Als fußballbegeisterter Schriftsteller hält er neben seinen politischen und kulturellen Werken, mitunter mit satirischem Anstrich, auch des Deutschen liebstes Kind in seinem Repertoire. Als 68er-Jahrgang gehört er zwar nicht der Generation Günther Kochs an, war allerdings im richtigen Alter, um den Aufstieg Kochs am Radio mitverfolgen zu können. Als Mitglied der deutschen Akademie für Fußballkultur ist Roth ein Mann, der den Bogen zwischen dem Kampf Mann gegen Mann um jeden Zentimeter und der kulturellen Eleganz zu spannen vermag. Nun ist ihm kurz vor Kochs achtzigstem Geburtstag die blendende Idee in den Sinn gekommen, diesen mit einer Biografie zu beehren. Für den Titel verwendete er dabei Kochs legendäre Worte aus dem Saisonfinale 1999, das gleichermaßen Kochs Schaffenshöhepunkt darstellt wie auch seine größte Niederlage als oberster "Club"-Fan.

Den Autor und seinen Protagonisten eint die große Kunst des Fabulierens und des Schwadronierens. Roth schickt gleich vorweg, dass er im vorliegenden, beim Münchener Kunstmann Verlag erschienenen Buch immer wieder mal auch die sonst verpönte erste Person Singular für eigene Beobachtungen einstreuen wird. Darüber hinaus schöpft er unzählige Begriffe, die womöglich in der deutschen Sprache Eintagsfliegen bleiben werden. Es ist nämlich ungewiss, was beispielsbeweise "Wortakkumulationsmetaphysik" überhaupt bedeuten mag respektive wo dieses Wort noch einmal Verwendung finden könnte. Aber genau diese Sprache sorgt für die perfekte Symbiose zwischen Roth und Koch, die für "Wir melden uns vom Abgrund" unzählige Stunden telefoniert und miteinander verbracht haben. Roth lässt Koch noch einmal so richtig lebendig werden, in dessen Rolle als Radioreporter mit Herz und Leidenschaft. Dies kulminiert schließlich in einer fiktiven Koch'schen Schilderung einer Tor-Überprüfung durch den Videoschiedsrichter. Günther Koch und der VAR, das hätte nicht gepasst!

Fußballhistorisch sind viele legendäre Bundesliga-Spiele mit Günther Koch und seinen Reportagen verbunden. Nicht nur der bereits erwähnte dramatische Abstieg der "Clubberer" im Jahre 1999, sondern auch das unglaubliche Phantomtor von Thomas Helmer für den FC Bayern oder das Aufstiegsfinale der jungen Wilden um Dieter Eckstein, Stefan Reuter, Hansi Dorfner und Co. anno '85 gegen Hessen Kassel. Dadurch, dass Jürgen Roth tonnenweise Audio-Mitschnitte gesichtet hat und diese transkribiert in das vorliegende Buch hat einfließen lassen, fühlt man sich als Leser zeitversetzt in eine Epoche aus der Vorzeit des Hochglanzfußballs. Dafür sorgen auch zahlreiche Interviews mit Zeitzeugen und Weggefährten Günther Kochs wie Hans-Peter Pull, Edgar Endres oder Karlheinz Kas. Wer das Glück hatte, bereits in den Achtziger und Neunziger Jahren fußballverrückt gewesen zu sein und im Sendegebiet des Bayrischen Rundfunks am Samstagnachmittag "Heute im Stadion" empfangen zu können, der wird bei diesem Buch viele nostalgische Flashbacks erleben.

Christoph Mahnel 
29.11.2021

 
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Das Buch:

Jürgen Roth: Wir melden uns vom Abgrund. Günther Koch - ein Leben als Fußballreporter

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München: Kunstmann Verlag 2021 320 S., € 24,00 ISBN: 978-3-95614-462-2

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