Buch des Monats - November 2009
Hanns-Josef Ortheil erfindet sein Leben neu
Was für ein arroganter Titel: Die Erfindung des Lebens! Und doch ist es natürlich genau das, was Schriftsteller tun, wenn sie nicht gerade Dokumentare sind: Sie erfinden Leben. Hanns-Josef Ortheil allerdings geht in seinem Roman noch einen Schritt weiter: Er erfindet sein Leben, er erfindet es neu. Schon Goethe wehrte mit dem Titel "Dichtung und Wahrheit" jegliche Kritik daran ab, dass er die Korrektheit der Erinnerungen einer dichterischen Wirkung opfern könnte. Und so behält sich auch Ortheil selbstbewusst vor, mit der eigenen Vergangenheit genau so umzugehen wie mit jedem anderen Stoff: er macht daraus Literatur.
Und diese Vergangenheit ist genau aus dem Stoff, aus dem Romane sind. Ein Kind wächst stumm neben seiner Mutter auf, der das Schicksal ebenfalls die Sprache verschlagen hat. Dem Vater gelingt es mit schier übermenschlicher Geduld, beide ins wirkliche Leben zurückzuholen. Aus dem Kind wird ein begnadeter Pianist, dem eine glänzende Zukunft winkt, bis eine schwere Krankheit die Musikerkarriere vernichtet. Ortheil verlegte sich wie der junge Mann im Roman aufs Schreiben. Doch dann gewinnt die fiktive Figur Johannes ihre volle Eigenständigkeit und erfüllt ihrem Schöpfer einen Traum. Das alles ist voll leiser Spannung und rührend, ohne rührselig zu sein.
Johannes lebt mit seiner schönen Mutter in einer symbiotischen Beziehung, die beide unglücklich macht und aus der sie sich doch erst lösen können, als der Vater die beiden rigoros trennt. Bei ausgedehnten Wanderungen lernt der Junge, der in der Schule kläglich versagte, unmittelbar an der Natur. Er lernt, ein Ding zu erfassen, sich seine Besonderheiten beim Malen einzuprägen und schließlich über die Schrift auch in die Sprache einzuordnen. Der junge amerikanische Autor Reif Larsen hat gerade in dem Bestseller "Die Karte meiner Träume" ganz ähnlich beschrieben, wie sich erst aus bildlichen Darstellungen für einen Menschen das innere Bild der Wirklichkeit entwickelt.
Hanns-Josef Ortheil, 1951 in Köln geboren, lehrt unter anderem Kreatives Schreiben an der Universität Hildesheim. Wie oft hat er wohl seinen Schülern geraten, über das zu schreiben, was sie genau kennen oder selbst erlebt haben? Manchmal erfordert das wohl einigen Mut. Auch Ortheil musste mehr als ein halbes Jahrhundert alt werden, ehe er an den Stoff ging, der ihm mit seiner eigenen stummen Kindheit zugewachsen ist. Nun hat er die Vergangenheit in der ihm eigenen keuschen, diskreten Schreibweise bewältigt. Immerhin erfährt der Leser auch, warum Ortheil ihn dann und wann nach Rom führt - in dieser Stadt war der Autor sehr glücklich und lebt zuweilen heute noch dort.
Katrin Börner, dpa
02.11.2009