Buch des Monats Juli 2023
Der letzte Vorhang
Während im fernen Europa der große Krieg tobt, nimmt die 18-jährige Rachel in Aspen an den US-amerikanischen Skimeisterschaften des Jahres 1941 teil. Es wird für sie ein einschneidendes Erlebnis, da sie zwar keine Medaille mit nach Hause bringt, aber dank eines One-Night-Stands im Hotel "Jerome" schwanger zurückkehrt. Ihr Sohn Adam wächst vaterlos auf, auch die Mutter ist wegen ihrer Anstellungen als Skilehrerin nicht immer zugegen. Bereits in jungen Jahren lernt Adam viele Formen des Zusammenlebens und Zusammenseins kennen, was im prüden Amerika keinesfalls selbstverständlich war. Ein Leben lang begleitet Adam der Wunsch, seinen Vater kennenzulernen, um seine eigene Identität besser verstehen zu können. Adams gesamte Lebensgeschichte ist voller Skurrilitäten, das Hintergrundgemälde bilden die Vereinigten Staaten mit dem Vietnamkrieg, der Reagan-Ära bis hin zum absurden Trump-Intermezzo.
Anhand der genannten Zutaten hat der versierte Leser sicherlich schon in Gedanken den virtuellen Buzzer-Knopf gedrückt und die richtige Antwort "John Irving" ausgerufen. Die Geschichte des Adam Brewster erstreckt sich über sagenhafte 1.088 Seiten, was "Der letzte Sessellift" tatsächlich zum längsten Roman in John Irvings Opus aufschwingen lässt. Sieben Jahre hat der mittlerweile 81-jährige Autor seit seinem letzten Roman "Straße der Wunder" ins Land ziehen lassen, was im Sinne weiterer Superlative zugleich die längste Schaffensperiode in John Irvings Karriere darstellt. Doch nun liegt er vor, der fünfzehnte Roman aus der Feder des womöglich größten US-amerikanischen Schriftstellers der Gegenwart, leider aber wohl nicht nur sein fünfzehnter, sondern auch zugleich sein allerletzter großer Roman.
Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger erklomm Irving mit seinem Klassiker "Garp und wie er die Welt sah" die höheren Sphären anspruchsvoller Unterhaltungsliteratur. Seitdem wird jeder neue Irving-Roman mit viel Spannung und Sehnsucht erwartet, die die meisten seiner Werke auch mehr als erfüllen konnten. "Owen Meany", "Gottes Werk und Teufels Beitrag", "Das Hotel New Hampshire" oder "Zirkuskind" sind nicht wegzudenken aus Buchläden, heimischen Bücherregalen oder den Erinnerungen vieler Menschen an wunderbare Stunden mit diesen Büchern. Und dies alles, obwohl doch die Vorhersehbarkeit der Figuren und Themen so groß ist bei Irvings Werken. Stets geht es wie in seinem eigenen Leben um den vaterlos aufwachsenden Jungen, der nach seinem Erzeuger sucht. Dazu gesellen sich viele pansexuell-orientierte Menschen um ihn herum, meist auch noch Bären, und gerungen wird sowieso. Auch die Schauplätze sind mit dem Schwerpunkt in Neuengland, aber auch Abstechern nach Wien oder Amsterdam gemäß Irvings eigener Vita sehr redundant angelegt.
Von daher wird der Irving-Sympathisant wieder seine wahre Freude an diesem Roman haben. Nahezu alle bekannten Zutaten wurden vom Autor hervorgeholt, um in einer bunten Komposition dargeboten zu werden. "Der letzte Sessellift" ist ein weiteres Plädoyer für Toleranz und Offenheit, insbesondere gegenüber sexuellen Minderheiten, die im vorliegenden Roman in vielen unterschiedlichen Konstellationen aufeinandertreffen. Doch der Leser benötigt sehr viel Stehvermögen, da Irving zum ersten Mal seit "Bis ich dich finde" wieder die 1.000-Seiten-Marke überschritten hat. Doch ein begnadeter Geschichtenerzähler benötigt nun einmal Raum, um seine Charaktere zu entwickeln und einen Hintergrund zu schaffen, in dem diese sich frei bewegen können.
Bekanntermaßen beginnt Irving seine Arbeit an einem neuen Roman stets mit dem allerletzten Satz, der für ihn als Schriftsteller eine enorme Bedeutung besitzt und auf den er sein gesamtes Schaffen hin ausrichtet. Auch im vorliegenden Roman ist Irving seiner Gewohnheit treu geblieben, und genau dieser Satz ist es, der die bereits zuvor lancierten Andeutungen nährt, dass der Leser den letzten großen Roman von John Irving in Händen hält. Wenn dem so sein sollte, ist es nicht opportun, darüber zu trauern, sondern glücklich zu sein, dass man zu Lebzeiten einem solch fantastischen Schriftsteller hatte folgen dürfen. Es schließt sich nun unausweichlich der Kreis von mehr als einem halben Jahrhundert, von "Lasst die Bären los!" bis zu "Der letzte Sessellift". Es war wahrlich eine sehr große Freude, sich auf alle diese wunderbaren Erzählungen eingelassen zu haben.
Christoph Mahnel
26.06.2023