Wissenschaften
Es war einmal in Tibet
Im April 1938 brach eine skurrile Zweckgemeinschaft in grotesker Mission zu einer knapp anderthalb Jahre dauernden Expedition nach Tibet auf. An ihrer Spitze stand der Zoologe und Tibetforscher Ernst Schäfer, an seiner Seite ein Haufen Pseudowissenschaftler. In den letzten Monaten vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs stand ihre Expedition ins "Schneeland", wie Tibet seinerzeit ehrfurchtsvoll und ahnungslos genannt wurde, ganz im Zeichen des herannahenden Welteninfernos. Kein Geringerer als der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, war der Mann und Förderer dieses Trupps, der bitteschön Nachweise des in Tibet vermuteten Ur-Ariers zu Tage bringen sollte. Schäfer nutzte dieses Vehikel als die willkommene Gelegenheit, seinem Jagdtrieb nach seltenen Vögeln und Tieren nachgehen zu können und als erster Deutscher Lhasa betreten zu dürfen.
Der Bremer Journalist Peter Meier-Hüsing, selbst leidenschaftlicher Bergsteiger, hat sich der Geschichte dieser unheilvollen Expeditionstruppe angenommen. Das vorliegende Buch "Nazis in Tibet - Das Rätsel um die SS-Expedition Ernst Schäfer" bietet einen umfassenden Einblick in die unterschiedlichen Interessen und Motivationen der Beteiligten, die Reise selbst sowie die Folgen dieses Trips. Schockierend sind dabei vor allem die Hintergründe zu Himmlers "Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe", das von ihm drei Jahre zuvor gegründet worden war und ganzheitliche wissenschaftliche Forschungen vorantreiben sollte. Dahinter stand allerdings die bloße Idee, der arischen Überrasse zu einer wissenschaftlichen Legimitation zu verhelfen. Insbesondere der überzeugte Rassist Bruno Beger tat sich hierbei aus Schäfers Truppe ganz besonders hervor. Während er in Tibet noch die Einheimischen vermaß, beschaffte er sich während des Krieges dann Schädel und Skelette aus Konzentrationslagern.
Der Autor hat sein überschaubares Buch sehr geradlinig aufgebaut. Zunächst liefert er für die spätere Expedition wichtige Hintergrundinformationen zu Himmlers okkultem Esoterik-Quatsch, führt die Person Ernst Schäfer ein und begleitet diesen auf seinen ersten Reise nach Innerasien, bis sich dann im Zusammenspiel mit Himmler und dessen "Ahnenerbe" die Chance ergibt, nach Tibet vorzustoßen. Die eigentliche Expedition auf tibetischem Boden war demnach vom wissenschaftlichen Standpunkt her nicht allzu spektakulär, abgesehen von den diplomatischen Scharmützeln mit den Engländern und den Trinkgelagen mit Einheimischen. So nimmt die Zeit in Tibet und Lhasa auch nur eines von neun Kapiteln im vorliegenden Buch ein. Spannend wird es schließlich nach der Rückkehr nach Deutschland und den Überlebensversuchen der Expeditionsteilnehmer während des Krieges.
Meier-Hüsing hat sich mit der Nazi-Expedition nach Tibet einen medienwirksamen Aufhänger für sein Buch geschnappt, das jedoch vor allem dadurch punktet, dass der Leser Einblicke in einen höchst grotesken Apparat der Nazis erhält. Man möchte einfach nicht aufhören, den Kopf zu schütteln, wenn von der "Welteislehre" oder anderem okkulten Schabernack, dem Himmler verfallen war, die Rede ist. Es offenbart einem das wahre Wesen eines der mächtigsten Nazis, dessen fanatischer Drang, endlich nachweisen zu können, dass die eigene Rasse über allen anderen steht, sein Handeln leitete. Im Vergleich dazu wird deutlich, dass Ernst Schäfer zwar eine verschrobene Person war, aber im tiefsten Innern doch primär seine wissenschaftliche Karriere vorantreiben wollte. Wenn es dabei des Trittbretts von Himmler bedurfte, nun gut, Schäfer war gerne bereit, dies in Kauf zu nehmen.
Jahr für Jahr finden sich im Theiss Verlag kleine Perlen historischer Episoden, die durch bewanderte Autoren höchst informativ aufgearbeitet werden. So ist auch "Nazis in Tibet" ein Buch, das einen von der ersten Seite an beschäftigt und in den Bann zieht. Peter Meier-Hüsing ist es gelungen, eine ausgewogene Darstellung der Expedition und deren historischer Einbettung vorzunehmen. Obgleich einem dabei sehr deutlich wird, dass auf dieser Expedition keineswegs der Olymp der Wissenschaften erreicht werden konnte, wäre man doch sicherlich gerne dabei gewesen, als sich erstmals einem Deutschen die Tore der tibetischen Hauptstadt Lhasa öffneten. Doch hätte man sich garantiert eine angemessenere und repräsentativere Entourage zu dieser Premiere gewünscht.
Christoph Mahnel
10.04.2017