Hörbücher
Zwei Frauen , eine Freundschaft und viel mediale Aufregung
Die beiden Freundinnen Elena, genannt Lenù, und Raffaella, genannt Lila, wachsen in den 1950er und 60er Jahren in einem Arbeiterviertel am Rande Neapels auf. Lenù ist die Tochter des Pförtners der Stadtverwaltung und Lila stammt aus der Schusterfamilie des Viertels. Obwohl sie gleichaltrig sind und denselben familiären wie gesellschaftlichen Hintergrund, nämlich den einer italienischen, von Männern dominierten Arbeiterfamilie in den 50er und 60er Jahren, teilen, könnten die beiden Mädchen nicht unterschiedlicher sein - dennoch eint sie mehr als alles andere ihre Freundschaft.
Lila bringt sich schon vor der Einschulung selbst das Lesen bei, leiht sich über mehrere auf die verschiedenen Mitglieder ihrer Familie laufenden Büchereiausweise stapelweise Bücher aus der kleinen Bibliothek aus und saugt alles Wissen, was sie bekommen kann, auf wie ein Schwamm. Trotz ihrer offensichtlichen Begabung verlässt sie nach wenigen Jahren die Schule und hilft in der Schusterei ihres Vaters, wo auch ihr größerer Bruder Rino arbeitet.
Die gleichaltrige Freundin aus der Nachbarschaft ist zwar auch eine sehr gute Schülerin, muss sich den Schulstoff aber hart erarbeiten. Ihr fehlt die Leichtigkeit des Lernens, die Lila so offensichtlich besitzt, von der sie jedoch keinen weiteren Gebrauch macht, als sie sich dem Druck der Familie beugt, die Schule verlässt und bereits mit 16 Jahren den Sohn der im Viertel angesehenen Familie Carracci heiratet. Lenù hingegen erkämpft sich ihren Weg aufs Gymnasium gemeinsam mit ihrer Lehrerin, die ihre Eltern davon überzeugt, dass Lenù weiterhin die Schule besuchen sollte.
"Meine geniale Freundin" ist der erste Teil eines vierbändigen Romanzyklus, der aus der Feder der italienischen Autorin Elena Ferrante stammt. So groß die momentane Aufregung um die deutsche Veröffentlichung ihrer sogenannten "Neapolitanischen Saga" ist, so groß ist auch das Geheimnis um ihre Identität. Elena Ferrante ist nämlich nur ein Pseudonym, unter dem die Autorin bereits seit 1992 Romane veröffentlicht. Ihre Tetralogie über zwei Freundinnen aus Neapel ist bereits vor einigen Jahren in Italien und kurz danach in englischer Übersetzung erschienen. Die deutschen Leser und Hörer können sich ab sofort über das sukzessive Erscheinen der vier Bände bis Ende 2017 freuen.
Unter #ferrantefever tauschen sich Fans aus aller Welt über die Saga der unbekannten Autorin aus und blähen damit die ohnehin schon groß angelegte Werbekampagne der Verlage weiter auf. Damit dieser Hype nicht einen bitteren Beigeschmack erhält und in ein müdes Sättigungsgefühl umschlägt, sollte man sich fragen, was diese Saga, diesen "Bildungsroman auf Neapolitanisch", so interessant macht, dass eine mediale Aufregung dieser Größenordnung gerechtfertigt ist. Ferrante, die laut neuester Medienberichte eine in Rom lebende italienische Übersetzerin mit deutschen Wurzeln sein soll, setzt in ihrem Roman eine der beiden Hauptfiguren, nämlich Lenù, als Ich-Erzählerin ein. Die Mittsechzigerin blickt auf ihr Leben zurück und schreibt ihre und Lilas Geschichte auf. Dabei beschreibt sie nicht nur die reinen Gefühle der Freundschaft, sie lässt einen auch in die Abgründe dieser engen Beziehung zweier Mädchen blicken, die auf so unterschiedliche Weise mit den Zwängen einer archaischen Gesellschaftsstruktur, die nicht nur von Männern, sondern auch von Armut, von Kriminalität und von der Camorra geprägt ist, umgehen. So ist die Freundschaft zu Lila nicht nur von Loyalität und Verbundenheit geprägt, sondern ebenso von Rivalität, Eifersucht und Verachtung.
Dass "Meine geniale Freudin" keine Längen hat, ist zwar einerseits der Autorin zu verdanken, zu einem gewissen Teil aber auch der Sprecherin dieses Hörbuchs, das den Roman ungekürzt wiedergibt. Mit Eva Mattes liest eine äußerst erfahrene und erfolgreiche Schauspielerin die Geschichte über eine unzerbrechliche Freundschaft. Mit sanfter, aber mitunter auch kräftiger und bestimmender Stimme verleiht sie den Erzählungen Lenùs Ausdruck und bereitet dem Hörer viele Stunden des Mitleidens und Mitfreuens.
Für Februar 2017 ist bereits der zweite Teil der Saga für den deutschen Buchmarkt angekündigt - sowohl in Buchform als auch in gesprochener Fassung. Da der erste Teil mit einem spannenden Cliffhanger und einem letzten Satz, an den man sich noch Tage nach Beendigung des Hörbuchs erinnert, geendet hat, ist das Dürsten nach der Fortsetzung ganz selbstverständlich. Aber auch ohne Cliffhanger hätte es Ferrante - oder wie auch immer die Schöpferin dieses modernen Bildungsromans heißen mag - spielend geschafft, dass man sich nach mehr sehnt; mehr von dieser schicksalshaften Freundschaft, mehr vom Ausbruch aus gesellschaftlichen Konventionen oder auch dem Befolgen dieser, mehr von dieser italienischen Geschichte, die das Schicksal von Mädchen und Frauen in den vergangenen sechs Jahrzehnten so leb- und schmerzhaft nachzeichnet.
Sabine Mahnel
04.10.2016