Hörbücher
Im Dienste seiner Majestät
Er hat das Glück, in eine privilegierte und gut situierte Familie hineingeboren worden zu sein. Die Industriellenfamilie Heßling führt ein gutbürgerliches Leben in einer Kleinstadt des deutschen Kaiserreichs. Der Familiensprössling Diederich verlässt nach der Schule die fiktive Stadt Netzig, um in Berlin seine Studien aufzunehmen. In der Hauptstadt findet er in der Gemeinschaft studentischer Verbindungen ein geistiges Zuhause und beginnt dort, seine kaisertreue Gesinnung zu entwickeln und auszuleben. Mit dem Doktortitel versehen kehrt er nach Hause zurück, um die Papierfabrik seines Vaters nach dessen Tod zu übernehmen. Vor seinen Angestellten schwingt Heßling Reden wie der von ihm so sehr bewunderte deutsche Kaiser vor seinem Volk.
Unliebsame Gegenspieler werden von Heßling denunziert. Für ein aufrichtiges Wort von Mann zu Mann ist er zu feige, stattdessen versucht er hinter dem Rücken anderer zu agieren. Heßling handelt konsequent gemäß dem Credo "Nach oben buckeln, nach unten treten". Selbst diejenigen Menschen, die ihn lieben und die ihm nahestehen, wie seine Jugendfreundin Agnes Göppel, seine Mutter oder seine Schwestern, behandelt er niederträchtig. In seinen anklagenden Hetzreden und Anschuldigungen flüchtet er sich in das national gesinnte Gedankengut, das im damaligen Kaiserreich gesellschaftlich höchst opportun war und Heßling stets als Legitimation diente.
Diederich Heßlings Lebensgeschichte ist der Inhalt eines der berühmtesten Bücher der deutschen Literaturgeschichte: "Der Untertan". Heinrich Mann, der ältere Bruder Thomas Manns, hatte diesen Roman einst im Juli 1914 fertiggestellt, quasi just zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Man mag diese zeitliche Koinzidenz retrospektiv für einen unglaublichen Zufall halten, denn war doch genau diese nationale und kaisertreue Einstellung des deutschen Mannes der gesellschaftliche Nährboden, auf dem die Saat des Niedergangs gedeihen konnte. Die nachfolgende Misere des Ersten Weltkriegs war wohl in einem Staate voller Untertanen eines Diederich Heßlings unausweichlich und ließ einen ganzen Kontinent schließlich in das größte Töten taumeln, das die Welt bis dahin erleben musste.
Zum hundertsten Geburtstag der Fertigstellung dieses Klassikers hat der Hörverlag seine vollständige Lesung aus dem Jahre 1989 neu aufgelegt. Mit Hans Korte als Sprecher ist diesem Hörbuch die perfekte Stimme geschenkt worden. Der Charakterdarsteller führt den Hörer dank der Wandlungsfähigkeit seiner Stimme und deren markantem Timbre gekonnt durch die 13 CDs umfassende Lesung. Trotz der mehr als 16 Stunden Laufzeit wird es einem zu keiner Sekunde langweilig. Der widerwärtige Charakter Diederich Heßlings machte es sicherlich vielen Lesern und Hörern in den vergangenen hundert Jahren schwer, einen Zugang zu diesem Werk zu finden. Dass das vorliegende Hörbuch den Leser dennoch packt, ist sicherlich auch ein Verdienst Kortes, der in seiner langen Bühnenkarriere schon so mancher, nicht immer sympathischen Charakterrolle eine besondere Note verleihen konnte.
Dem Hörbuch liegt ein Booklet anbei, das einen Aufsatz Kurt Tucholskys aus dem Jahre 1919 enthält. Dieser war einst in dessen Wochenzeitschrift "Die Weltbühne" erschienen und wird gerne als zeitgenössische Sekundärliteratur zu Manns "Der Untertan" herangezogen. Die heutige Beurteilung ordnet dieses Werk als messerscharfe gesellschaftliche Analyse des kaisertreuen deutschen Mannes ein. Es erschleicht einen das Gefühl, dass tatsächlich zwei Weltkriege notwendig waren, um den steinigen Weg von einer Gesellschaft voller Diederich Heßlings bis hinein ins Hier und Jetzt gehen zu können. Besondere prophetische Gabe muss man Heinrich Mann schließlich ob dessen gelungenem Ende mit dem infernalischen Unwetter attestieren. Das sich beim Leser und Hörer einbrennende Bild, wie Heßling auf dem Gipfel seiner Machenschaften von Blitz und Donner förmlich weggewischt wird, lässt sich ziemlich abbildungstreu auf die im fatalen Sommer 1914 beginnenden weltpolitischen Geschehnisse übertragen.
Christoph Mahnel
01.09.2014