Hörbücher
Sozialkritik auf Wiener Art
Zwei gut betuchte und anfangs noch befreundete österreichische Familien brechen zu einem gemeinsamen Urlaub in der Toskana auf. Dabei hat Sophie Luise, die älteste Tochter der Strobl-Marineks, darauf bestanden, ihre Klassenkameradin Aayana, ein somalisches Flüchtlingsmädchen, mitnehmen zu dürfen. Da Aayana nicht schwimmen kann, hat sich Sophie Luise bereit erklärt, ihr im Urlaub das Schwimmen beizubringen. Doch bereits am ersten Abend geschieht die Katastrophe. Als Sophie Luise Aayanas Abwesenheit bemerkt, ist es bereits zu spät. Der leblose Körper des somalischen Mädchens treibt im Swimmingpool des luxuriösen Anwesens. Fortan ist nichts mehr, wie es war, insbesondere der Umstand, dass Sophie Luises Mutter als Politikerin eine öffentliche Person ist, weckt das Interesse des Boulevards und der Medien.
Zwei Familien, mehr gebaut auf Schein als auf Sein, sezieren sich nach dem Unglück selbst und gegenseitig. Aus besten Freundinnen werden Feindinnen, schon lange schwelende Eheprobleme treten deutlich zutage. Die psychischen Probleme der Kinder, die man lange nicht wahrhaben wollte, schlagen mit voller Wucht zu Buche. Aus sieben Menschen zweier scheinbar intakter Familien werden sieben Einzelkämpfer, die mit dem Unglück in der Toskana umzugehen lernen müssen. An das Leid der Hinterbliebenen in der somalischen Familie denkt zunächst allerdings niemand. Erst als der Fall mitsamt seinen Begleiterscheinungen vor Gericht landet, richtet sich der Blick auf diejenigen Menschen, die bereits eine ganze Serie von Katastrophen haben hinnehmen müssen.
"Die spürst du nicht" lautet eine despektierliche Aussage einer der beiden Familienväter und ist der Titel des neuesten Romans von Daniel Glattauer. Der Wiener Schriftsteller konnte anno 2006 seinen Durchbruch mit "Gut gegen Nordwind" verzeichnen. Der als E-Mail-Konversation geschriebene Roman zwischen zwei Menschen, die sich zufällig, ja irrtümlich begegnet waren, überzeugte als intelligenter und fesselnder Dialog. Zusätzlich zum Buch war ein von Andrea Sawatzki und Christian Berkel gesprochenes Hörbuch produziert worden, das niemand vergessen wird, der es je gehört hat. Mit "Alle sieben Wellen" lieferte Glattauer drei Jahre später auch noch die lang ersehnte Fortsetzung dazu ab.
Wie viele Romane von Daniel Glattauer greift auch "Die spürst du nicht" gesellschaftliche Themen auf. Als präziser Beobachter der Menschen streut der Autor wieder viel Salz in Wunden. Angefangen mit der Arroganz von Wohlstandsfamilien, die glauben, sich ein gutes Gewissen erkaufen zu können, arbeitet sich Glattauer anschließend am gesellschaftlichen Mob ab, der im virtuellen Deckungsschatten keine Gelegenheit auslässt, die eigene Unzufriedenheit auf andere zu projizieren. Im vorliegenden Hörbuch, das von Hörbuch Hamburg glücklicherweise als vollständige Lesung produziert wurde, leisten Tessa Mittelstaedt und Steffen Groth großartige Arbeit bei ihrem Vortrag dieses intelligenten Romans. Während die Sprecherin die Haupthandlung vorträgt, wird ihr männliches Pendant bei den Pressemitteilungen und den Auszügen aus den Online-Kommentaren stimmlich tätig.
Daniel Glattauer ist ein Großer seiner Zunft, denn er schreibt nie mit erhobenem Zeigefigur, regt aber stets zum Nachdenken an. Diese Gratwanderung meistert er in "Die spürst du nicht" wieder einmal mit Bravour. Dabei bringt er viele nachdenkenswerte Perspektiven zur Flüchtlingsthematik ein und lässt seine Protagonisten in einer Extremsituation zurück, die man als Hörer nicht am eigenen Leib erfahren möchte. Überheblichkeit und Neid sind die beiden charakterlichen Themen, die Glattauer in den Fokus seines neuesten Romans gerückt hat. Dies alles hat er in einem geschickt konstruierten Plot miteinander verwoben, bei dem sich unter Garantie selbst erfahrene Leser und Hörer überraschen lassen werden. Lange lässt der Autor einen im Unklaren über die Absichten und Beweggründe einiger Charaktere, was das empfehlenswerte Hörbuch zu guter Letzt auch noch zu einem spannenden Erlebnis werden lässt.
Christoph Mahnel
03.07.2023