Hörbücher
Vorzüglicher alter Wein in neuem Schlauch
An einem Sommerabend im Jahre 1994 erschütterte ein Vierfachmord das Idyll von Orphea, einer Kleinstadt in den Hamptons. Seinerzeit waren der Bürgermeister der Stadt, seine Frau, der Sohn und eine scheinbar zufällig den Tatort passierende Joggerin Opfer eines grausamen Verbrechens geworden. Der junge Jesse Rosenberg hatte damals den Fall zusammen mit seinem Partner gelöst. Rosenberg ist eine Legende der regionalen Polizei, kann er doch eine hundertprozentige Quote für die Auflösung der ihm zugetragenen Fälle aufweisen. An diesem Legendenstatus möchte nun aber Stephanie Mailer rütteln. Die beim Orphea Chronicle arbeitende Journalistin hat ihre Zweifel daran, dass der Mann, der damals für die Tat verantwortlich gemacht worden war und in der Zwischenzeit verstorben ist, tatsächlich der Vierfachmörder aus dem Sommer 1994 ist.
Eigentlich hatte Rosenberg beschlossen, seine Polizeikarriere 20 Jahre nach besagtem Fall, obgleich erst im zarten Alter von 45 Jahren, an den Nagel zu hängen. Doch just auf seiner Verabschiedungsfeier wird er von Stephanie Mailer direkt auf seinen angeblichen Fehler angesprochen. Rosenberg versucht, seinen Ruhestand noch hinauszuzögern, um diesen Fall seines Lebens bis zur finalen Aufklärung begleiten zu können. Für die junge und neugierige Reporterin nimmt die Handlung hingegen einen lebensbedrohlichen Verlauf. Sie verschwindet, bis man kurze Zeit später an einem nahegelegenen See ihr leerstehendes Auto entdeckt. Im Wasser finden Taucher schließlich eine aufgedunsene Leiche. Hat der Vierfachmord von Orphea etwa zwanzig Jahre danach ein weiteres Todesopfer gefordert?
"Das Verschwinden der Stephanie Mailer" lautet der Titel des neuesten Romans von Joël Dicker. Der im Jahre 1985 in Genf geborene Franko-Schweizer legt damit seinen dritten Bestseller vor. Mit "Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert" war ihm vor sechs Jahren ein sensationeller Überraschungserfolg gelungen. Die lose daran anknüpfende Fortsetzung "Die Geschichte der Baltimores" war schließlich ganz großes Kino, eine emotionale Familiengeschichte, die in einer ungeahnten Katastrophe kulminierte. An "Das Verschwinden der Stephanie Mailer", Dickers nächsten großen Wurf, sind daher ganz viele Erwartungen geknüpft. Vom Volumen her verspricht die beim Piper-Verlag herausgebrachte Buchausgabe wieder einen Blockbuster. Mit 670 Seiten kommt es ziemlich gewaltig daher, obgleich Infos aus dem Umfeld des Autors einen wissen lassen, dass Dicker große Kürzungen vorgenommen hat, um nicht in Irving'sche Dimensionen vierstelliger Seitenzahlen vorzustoßen.
Das vorliegende Hörbuch ist von Osterwold Audio glücklicherweise als ungekürzte Lesung herausgebracht worden, so dass einem als Hörer keine einzige Zeile Dickers verloren geht. Mit knapp 20 Stunden Laufzeit wird man mit den drei mp3-CDs angesichts des anstehenden Sommerurlaubs selbst für eine Fernreise auf Hin- und Rückfahrt gut gewappnet sein. Am Mikrofon ist für Kontinuität gesorgt, denn wie schon bei den ungekürzten Lesungen der beiden Vorgängerromane Dickers haben die Hamburger Hörbuchproduzenten erneut Torben Kessler gewinnen können, der mit seiner lebendigen Stimme dem Hörbuch eine zusätzliche Prise Vitalität verabreicht. Dicker gelingt es, gleichzeitig Spannung auf zwei Ebenen aufzubauen, aufrechtzuhalten und zum Höhepunkt zu treiben.
"Das Verschwinden der Stephanie Mailer" spannt den Bogen zwischen den unheilvollen Ereignissen im Sommer 1994 und den Entwicklungen genau 20 Jahre später im Sommer 2014, als Stephanie Mailer den Fall neu aufrollt. Dicker entwirft das liebevolle Panorama einer Kleinstadt in der scheinbar heilen Welt der Hamptons, schöpft viele Charaktere und führt sukzessive Abhängigkeiten und Verstrickungen zwischen diesen ein. Als Hörer ist man beständig als Ermittler dabei und versucht, bei der Jagd nach dem Mörder die vom Autor gelegten falschen Fährten zu erkennen und die Tat der Aufklärung näherzubringen. Auch wenn das vorliegende neueste Werk Joël Dickers wieder nach einem ähnlichen Strickmuster operiert wie die beiden genannten Vorgänger, ist die Erwartungshaltung der Anhängerschaft vollends erfüllt worden: 20 Stunden lang großartige Unterhaltung in einem präzise und liebevoll ausstaffierten Plot. Gerne nochmal und nochmal!
Christoph Mahnel
11.06.2019