Bildbände

Als der Fußball seine Unschuld verlor

Die Entwicklung des modernen Fußballs schreitet heutzutage von Saison zu Saison mit Siebenmeilenstiefeln voran. Wenn ein Verein aus der Beletage letztes oder vorletztes Jahr erfolgreich war, aber keine neuen Reize gesetzt oder Adjustierungen vorgenommen hat, wird er mit Garantie bereits im Sinkflug begriffen sein. So dicht ist die Spitze zusammengerückt, dass über Titelgewinn oder Achtelfinal-Aus lediglich Nuancen entscheiden. Angesichts dieser permanenten und stetigen Entwicklung blickt so mancher Nostalgiker gerne zurück auf die gute alte Zeit des Fußballs, wo der Ball noch in Ruhe angenommen werden konnte, man den Fuß auf ihn stellen und sich nach einem geeignet postierten Mitspieler umschauen konnte. Aus der Reihe der Älteren werden dann gerne Rufe nach Netzer, Overath oder Beckenbauer laut, während die Kosmopoliten unter ihnen noch Johan Cruyff, George Best oder Pelé hinzufügen wollen.

Bei der Nennung dieser Namen und den Gedanken an diese vergangene Art, den Fußball zu zelebrieren, landet man mit der Zeitmaschine unweigerlich in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Sicherlich waren die ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte durch den WM-Gewinn von Bern und die Gründung der Fußball-Bundesliga mit wichtigen Meilensteinen gesegnet, doch die Schönheit des Fußballs ballte sich nie intensiver als in den zehn Jahren ab 1970. Mit den heute noch gerne als beste Fußball-Weltmeisterschaft aller Zeiten bezeichneten Titelkämpfen in Mexiko wurde dieses Jahrzehnt fulminant eingeleitet. Die etwas trübe Veranstaltung vier Jahre später in Deutschland hat natürlich durch den Titelgewinn des Gastgebers Unsterblichkeit erlangt, wohingegen die dritten Titelkämpfe dieser Dekade aus deutscher und humanitärer Sicht eher zum Vergessen waren. Doch auch negative Erinnerungen können schließlich bleibend sein.

Der Engländer Reuel Golden hat als Reminiszenz an dieses überragende Jahrzehnt des Fußballs einen opulenten Bildband herausgebracht: "The Beautiful Game". Tatsächlich ist der vorliegende, äußerlich in Orange gehaltene Wälzer eine wunderschöne Hommage an den Fußball aus einer anderen Zeit. Zu Beginn lässt Golden noch ein paar englische Sportjournalisten in knapp gehaltenen Essays zu Wort kommen, in denen diese den Fußball der 1970er aus ihrer Sicht einzuordnen versuchen. Anschließend lässt der Herausgeber dann aber ausschließlich Bilder sprechen, die er chronologisch in drei Kapitel geglieder hat: Von 1970-1973, von 1974-1977 und schließlich noch die Jahre von 1978-1979. Dank dieses Ansatzes wird die Pop-Werdung des Fußballs in den Siebzigern rasch deutlich. Finden sich gerade zu Beginn noch einige Schnappschüsse aus der Zeit der elf Freunde und der immer wieder mal modernen adidas-Trainingsanzüge, werden im Buch fortschreitend die Koteletten immer länger und die Schlaghosen markanter.

Hierzulande hat ein Günter Netzer mit seinen langen Haaren, Sportwagen, Freundinnen und Disko-Eskapaden für Schlagzeilen gesorgt, gegen einen George Best war er womöglich aber nur ein Waisenknabe. "The Beautiful Game" hat zahlreiche Aufnahmen dieser ersten Popstars des Fußballs in petto, gerne auch garniert mit entsprechenden weiblichen Begleitungen in kurzen Röcken. Reuel Golden, das heißt seine Fotografen, richten schließlich auch den Blick über den Großen Teich. Mitte der Siebziger Jahre unternahm der Fußball seinen ersten Anlauf, um die Vereinigten Staaten von sich zu überzeugen. Die NASL geizte nicht mit Stars und integrierte den "Soccer" in ihr Verständnis von Show und Profisport. Dass der Fußball in den USA damals deutlich ungezwungener gesehen und gelebt wurde, wird aus den zahlreichen Bildern schnell klar. Ein Bild aus der Dusche, das nicht einmal Pelés bestes Stück zensiert, wäre im Deutschland der Siebziger vollkommen undenkbar gewesen.

"The Beautiful Game" ist ein absolutes Must-have für jeden Liebhaber des runden Leders, für jeden Ästheten, der sich neunzig Minuten lang vom Kampf um den Ball in den Bann ziehen lässt. Aufnahmen von über dreißig verschiedenen Fotografen hat Reuel Golden hier zusammengestellt, um einen Streifzug durch ein Jahrzehnt zu unternehmen, das stilbildend war für den Weg des Fußballs in die Moderne. Ob der Leser beziehungsweise der Betrachter dieses Buchs selbst noch leibhaftige Erinnerungen an den Fußball in den Siebzigern hat, ist daher völlig nachrangig. Für den knapp drei Kilogramm schweren Wälzer aus dem Kölner Taschen Verlag wird jeder Freund des Fußballs alles tun, um eine angemessene Position zu finden, in der er stundenlang schwelgen kann und jedes Mal neue Aspekte in den künstlerisch wertvollen Aufnahmen finden wird.

Christoph Mahnel
02.10.2017

 
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Das Buch:

Reuel Golden (Hg.): The Beautiful Game - Fußball in den 1970ern

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Köln: Taschen Verlag 2015
300 S., € 39,99
ISBN: 978-3-8365-5481-7

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