Romane

Im Buchfieber

Miklós hat Bergen-Belsen überlebt und befindet sich nach Kriegsende in einem Flüchtlingslager in Schweden. Dennoch scheint er dem Krieg nur für kurze Zeit ein Schnippchen geschlagen zu haben. Der Lagerarzt gibt ihm aufgrund seiner kranken Lunge nur noch sechs Monate zu leben. Eine niederschmetternde Diagnose, doch Miklós lässt sich von ihr keineswegs irritieren. Er hat seinen ganz eigenen Plan vom Leben. Zunächst sieht dieser vor, die für ihn bestimmte Frau kennenzulernen. Dazu verfasst er mehr als 100 Briefe an Schicksalsgenossinnen, Ungarinnen aus Debrecen und Umgebung, die genau wie er ein Konzentrationslager überlebt haben und in Schweden gestrandet sind. Daraus entwickeln sich einige ernsthafte Korrespondenzen, die von Miklós gewissenhaft gepflegt werden. Doch bereits beim ersten Brief von Lili ist er sich sicher: die und sonst keine!

Miklós‘ Auserwählte lebt mit ihren Freundinnen in einem Frauenlager, das für Miklós aufgrund der Entfernung und den gegebenen Bestimmungen nicht so einfach zu erreichen ist. Doch mit der ihm eigenen Besessenheit, mit der er schon sein Schicksal ignoriert und die ersten Schritte seines Vorhabens ausgeführt hat, wird ihm auch hierbei niemand einen Stein in den Weg legen können. Eine von Brief zu Brief intensiver werdende Freundschaft entwickelt sich zu Liebe und setzt sich scheinbar mühelos über alle Hürden hinweg. Keine Diagnose, keine Bestimmung und keine noch so große Distanz können Miklós und Lili ausbremsen.

"Fieber am Morgen" ist im diesjährigen Bücherherbst eine der am heißesten diskutierten Neuerscheinungen. Péter Gárdos ist ein bis dato völlig unbekannter Autor, schlichtweg war er bisher noch gar nicht als Autor in Erscheinung getreten. Der 67-jährige Ungar ist in seiner Heimat als Filmemacher tätig, "Fieber am Morgen" ist die Geschichte seiner Eltern, und die Verfilmung seines schriftstellerischen Erstlings wird er natürlich sogleich auch selbst umsetzen. "Fieber am Morgen" hat ein wahres Fieber unter Europas Verlegern entfacht. Obgleich das ungarische Original schon ein paar Jahre alt ist, hat es auf der diesjährigen Londoner Buchmesse die Verleger aller Länder infiziert und dafür gesorgt, dass die Rechte nun schon in 26 Länder verkauft worden sind.

Für den deutschen Buchmarkt hat der Hamburger Hoffmann und Campe Verlag das Rennen gemacht. Dessen Chef Daniel Kampa hat umgehend die Maschinerie seines Hauses mit allerhöchster Geschwindigkeit angeworfen. Da er nach eigenen Worten so sehr von diesem Buch überzeugt ist, wollte er "Fieber am Morgen" um jeden Preis noch in diesem Herbst auf den Markt bringen, was ihm bekanntermaßen auch gelungen ist. Somit bekommt die Geschichte hinter der Geschichte von Miklós und Lili ihren ganz eigenen Stellenwert, zeigt sie doch auf eindrucksvolle Weise, wie das heutige "Book Business" funktioniert. Es lebt vom Gefühl einzelner Menschen, die bei einer einmal erlangten Überzeugung am besten alles stehen und liegen lassen, um ihrer Bestimmung zu folgen. Aufgrund dieser Glaubenssache und potentieller retrospektiver Ärgernisse kann eine Verwandtschaft zum Aktienmarkt nicht geleugnet werden. Man frage nur bei den vielen englischen Verlagen nach, die Rowlings Geschichten von einem jungen Zauberlehrling einst ablehnten und damit dem Bloomsbury Verlag zu Weltruhm und ganz viel Gewinn verhalfen.

Ob sich "Fieber am Morgen" letztlich zum ganz großen Bestseller entwickeln wird, ist trotz der spektakulären Geschichte um das Buch keineswegs gewiss. Sicherlich ist Gardos‘ Darstellung von Miklós und dessen Lebensmut unglaublich inspirierend, auch seine Erzählform mit den immer wieder eingestreuten Brieffetzen, die sich Miklós und Lili wie gelbe Filzbälle hin und her spielen, macht dem Leser ungeheuren Spaß. Doch hat man bei diesem Schelmenroman nicht unbedingt das Gefühl, Literaturgeschichte verpasst zu haben, wenn man ihn nicht gelesen hat. So stand "Fieber am Morgen" zwar gleich bei der ersten Folge des neuen "Literarischen Quartetts" im Zweiten Deutschen Fernsehen auf der Agenda, wurde dort allerdings nicht unisono mit Lobeshymnen gestreichelt. Maxim Biller bezeichnete das Buch gar als "Holocaust-Kitsch" und stieß damit keineswegs auf empörte Ablehnung in der intellektuellen Gesprächsrunde. Doch da die Geschmäcker bekanntermaßen verschieden sind, möge jeder Leser die berührende und Lebenslust versprühende Geschichte von Miklós und Lili ganz einfach mit seinen eigenen Maßstäben bewerten.

Christoph Mahnel
12.10.2015

 
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Das Buch:

Péter Gárdos: Fieber am Morgen

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Hamburg: Hoffmann und Campe 2015
256 S., € 22,00
ISBN 978-3-455-40557-6

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