Romane

Lücken und Lügen

Was denn nur dazu sagen? Verschmitzt schmunzeln, wie der Autor das tut, der den Roman "Nesselk?nig" geschrieben hat? Schmunzelnd, verschmitzt sagen: Lies mal! Lesen Sie Ralf Eggers "Nesselk?nig"! Das ist ein satirischer Roman. Mit derartigen Romanen ist die deutsche Literatur nicht gesegnet.

Kaum haben wir Uwe Tellkamps "Der Turm" verkraftet, kommt schon wieder ein Turm ins Blickfeld. Nicht auf Dresdens Nobelh?gel "Wei?er Hirsch" errichtet, ist er nun in Potsdams arkadischer Landschaft zu besichtigen. Im Turmzimmer haust Victor Nesselk?nig. Wahrlich kein Nobody! Ein gestandener Mann, mit einer versteckten Biographie, hinter der sich die versteckte Biographie eines B. Traven verstecken muss. Gekonnt hat Eggers eine Lebensgeschichte konstruiert, in der er alle Ger?chte unterbringen kann, die die Geschichte des 20. Jahrhunderts m?glich machte. Gesetzt den Fall, die Lebensgeschichte Nesselk?nigs wird als die einer Figur des Schachspiels der Schlachten des Vorjahrhunderts gelesen. Um es genauer zu sagen: Der literarischen, geistigen, politischen Schlachten. F?r die ist die Figur des Victor Nesselk?nig tats?chlich der repr?sentativste Repr?sentant. Dem Dichter Nesselk?nig wird jeglicher Ruhm, vom Nobelpreis bis zum Nationalpreis der DDR, nicht nur angedichtet. Dennoch ist der Bekannte ein h?chst Unbekannter. Sein Leben ist ein Leben voller L?cken. Seine Lebensgeschichte ist voller Lebensl?gen. Das ist der Stoff, aus dem Trag?dien gemacht sind beziehungsweise werden. Oder, wie bei Ralf Eggers, eine saftige Satire. Sollte man sagen: Eine tragische Satire? Das hei?t, dem Roman die Ernsthaftigkeit zuzubilligen, die er hat. Hie?e auch, das Am?sement nicht ann?hernd zu w?rdigen, mit dem der Schriftsteller seinen Stoff in s?mtliche m?glichen Winkel des Geschehens schleppt. So dass sich die Leser immer neu vergn?gt wundern, in welche Winkel sie geschleift werden.

Der 1961 geborene Schriftsteller steigt nicht nur in die Keller reichsdeutscher, sowjetischer, ddr-deutscher Vergangenheit. Er nimmt mit in das lebensgef?hrliche Moskau der drei?iger Jahre, in die Tristheit der ostdeutschen Provinz, die f?r Nesselk?nig im Problemjahr 1953 beginnt, als der Verschollene seine Auferstehung erlebt. Wem Nesselk?nig w?hrend der Jahrzehnte, bis zu seinem vermeintlichen Tod am 8. Oktober 1989 (!), begegnet, verbl?fft, macht den Roman jedoch nicht zu einem Schl?sselroman. Wenn, dann ist er ein Schl?ssel zu den Seelen von Prominenten, die ostw?rts der Elbe Rang und Namen hatten.

So beeindruckend die Kenntnisse des Autors sind, der sich in der Zeitgeschichte wie ein Zeitzeuge bewegt, so souver?n geht er mit dem angelesenen, angeeigneten historischem Material um. Muss er, weil er einer ist, der dann doch nicht dabei war. Weil er ein Erz?hler ist, der den Lesern die verzwickte, verwickelte Story des "R?tselmannes", des "Phantoms" Nesselk?nig in seinem vitalen, variationsreichen Erz?hlwerk verklickern will. Ein Roman hat nun mal mehr Realit?t als Realit?t Reales hat. Die Leser d?rfen mit-r?tseln, d?rfen vermuten, aber auch verwirrt sein, wenn es anders kommt als angenommen. Nie vergessen: Der da spricht ist ein Satiriker! Er kann ?berspitzen, wo es was zu ?berspitzen gibt. Und daf?r gibt's immer neue vom Autor geschaffene Gr?nde. Die gefundenen und erfundenen Geschichten liefern die Gr?nde. Und die Geschichte der Suche nach dem verlorenen Ich, die die Geschichte des Viktor Nesselk?nig ist. Die eigentliche Geschichte des Romans, auf die man sich am ehesten einigen kann. Sofern man sich - wodurch auch immer - gen?tigt sieht, die Geschichte der Geschichten auszumachen.

Wer sich dazu nicht gen?tigt sieht, genie?t die Parabeln und Parodien, in denen Personen und Prozesse einer vergangenen Periode verquirlt werden. Gr??ten Genuss werden die Leser haben, die den Geist vergangener Geschichten und deren gestaltenden Gestalten im Sinn haben. Ralf Eggers Prosa modelliert ein Panoptikum fast vergessener und vergessener Gr??en mehrerer deutscher Gesellschaften. Typen, Typen, Typen! Da kommts auf das Individuelle nicht so an. Also reichts, wieder und wieder die Neigung des Kopfes zu beschreiben und wer sich wann am Kinn kratzt oder mit dem Handr?cken ?ber den Mund wischt. Wollen die Leser das wissen? Oder nehmen sie derartige gleichbleibende Beschreibungen als Element des Karikierens hin? Bevor sie selbst dazu neigen, mit "schr?g gelegtem" Kopf dazusitzen, sich am Kinn zu kratzen und mit dem Handr?cken ?ber den Mund zu wischen. K?me es soweit, w?re man der Suggestion des Schriftst?cks v?llig erlegen. Es droht den Leuten Gefahr, die sich leicht vereinnahmen lassen.

Der Schriftsteller Ralf Eggers ist ein Schlitzohr. Der Roman "Nesselk?nig" ist eine Satire. In dem geschieht alles, was den Menschen nicht geschehen sollte, n?mlich in die M?hlen der Geschichte zu geraten. Vielleicht steckt Ralf Eggers selbst schon in einer M?hle. In der der Literaturgeschichte, denn Tellkamp war nun mal schneller mit seinem Turm da. 

Bernd Heimberger
28.02.2011

 
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Das Buch:

Ralf Eggers: Nesselkönig

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Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2011
463 S., € 16,90
ISBN: 978-3-89812-767-7

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