Romane

Auf Schatzsuche im Unbekannt-Phantastischen

In welcher außergewöhnlichen Landschaft siedelt man einen Abenteuerroman im 20. Jahrhundert an, wenn es auf der Erde - abgesehen vielleicht von der als Handlungsort nicht sehr ergiebigen Tiefsee - nach Jahrhunderten der Entdeckungsreisen keine gefahrenvolle Fremde mehr zu erkunden, keine unerforschten Zonen mehr gibt? Die Brüder Arkadi und Boris Strugatzki haben darauf eine ebenso naheliegende wie einfache Antwort gefunden: Man erfindet neue unbekannte "Zonen" auf der Weltkarte. Der phantastische Roman "Stalker" schildert die abenteuerliche und illegale Erkundung eines dieser lebensgefährlichen Gebiete.

Der ursprüngliche Titel des Buches, "Picknick am Wegesrand", veranschaulicht, worum es geht: Ein nicht näher benannter "Besuch", der aus Richtung des Sternbilds Schwan kommend den Planten Erde erreichte, hat eine Handvoll "Besuchszonen" mit Relikten und unerklärlichen Phänomenen zurückgelassen, vor denen die Menschen ratlos stehen wie Insekten vor den Resten eines Picknicks. Im Roman erkunden - neben Wissenschaftlern an einem Institut - Pioniere und Schatzsucher, sogenannte Stalker, allen voran der Romanheld Redrick Shewhart, über einen Zeitraum von acht Jahren die veränderte, todbringende Gegend, das Sperrgebiet um einen Steinbruch bei Harmont (USA), um rätselhafte und fremdartig funktionierende Gegenstände daraus zu bergen und zu Geld zu machen.

Der Mitte der 70er Jahre erstmals ins Deutsche übertragene Zukunftsroman "Picknick am Wegesrand", ein Klassiker, der nun unter dem an seine weltberühmte Verfilmung durch Andrei Tarkowski angelehnten Titel "Stalker" in neuer Übersetzung und einer ansprechend gestalteten Ausgabe vorliegt, wurde vom Verlag mit einem Vorwort von Wladimir Kaminer versehen, ferner einem Kommentar von Boris Strugatzki (über Schwierigkeiten mit der sowjetischen Zensur), einem Auszug aus dem Arbeitstagebuch der Brüder Strugatzki, der Erzählung "Die Wunschmaschine" und einem Nachwort (das u.a. die spezifisch russischsprachige Bedeutung des Begriffs 'Stalker' im Sinne von "Pionier, Erstentdecker" erklärt).

So liegt ein Buch vor, das zu rund zwei Dritteln aus dem Roman, in vier für sich weitgehend abgeschlossenen Episoden, und zu rund einem Drittel aus ergänzenden Texten besteht, wobei die erstmals ins Deutsche übertragene Urfassung der Erzählung "Die Wunschmaschine" von Januar 1976 (aus deren späteren Versionen das Drehbuch zum Tarkowski-Film von 1979 entstanden ist) die wertvollste Erweiterung darstellt. Mit dieser nämlich hält der Leser eine fünfte Episode um die "Zone" in Händen, die zwar aus der vierten Romanepisode hervorgegangen ist, aber aufbauend auf Motiven daraus eine eigenständige Geschichte erzählt.

Die neue Übersetzung von David Drevs ist zeitgemäß und wartet mit einer gegenüber älteren Übertragungen aktualisierten Begrifflichkeit für die fremdartigen Artefakte der "Zone" auf (z.B. "volles Leerteil" statt "volle Null", "ewige Motoren" statt "Perpetuum mobile"). Das Zusatzmaterial ermöglicht dem Leser seine ganz persönliche Schatzsuche: so kann er im Buch skizzenartige Karten der "Zone" entdecken, vielfältige Informationen zur Rezeption und Interpretation des Romans, verworfene Ideen der Autoren usw. All das ist kein entbehrliches Beiwerk, sondern stellt einen hilfreichen Rahmen für das tiefere Verständnis des intellektuellen Anspruchs des Romans als Gedankenexperiment bereit.

Die russischsprachige Erstausgabe ist 1972 erschienen, im Zeitalter des Wettlaufs zum Mond und der ersten Mondlandungen, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts im Zeichen des Kalten Krieges. Die 70er Jahre waren eine Blütezeit anspruchsvoller Science-Fiction, auch im sogenannten Ostblock. Die Brüder Strugatzki antworten mit ihrem phantastischen Roman auf den Fortschrittsglauben der Zeit und der politischen Systeme.

Dem inhumanen Wirken der "Zone" stellen sie die humane Sicht auf den tapferen täglichen Überlebenskampf des einfachen Mannes, des Abenteurers Redrick Shewhart, der die ihn umgebenden größeren Zusammenhänge kaum versteht, gegenüber. Dafür steht ihre Literatur bis heute: das andere Russland.

Holger Schwinn 
05.09.2022

 
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Das Buch:

Arkadi & Boris Strugatzki: Stalker. Aus dem Russischen von David Drevs

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München: Heyne 2021 400 S., € 12,99 ISBN: 978-3-453-32101-4

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