Romane
Um die Fünfzig
Ingrid und Jan hätten allen Grund, glücklich zusammenleben zu können. Sie Lehrerin, er im Ministerium gerade befördert, zwei Söhne, die an der Schwelle zum Erwachsenwerden stehen, dazu ein Haus in Oslo, die Feierlichkeiten für die eigene Silberhochzeit wollen vorbereitet werden. Doch plötzlich trifft die beiden Fünfzigjährigen die Midlife-Crisis mit voller Wucht. Ingrid beginnt, ihr Leben und den Trott des Alltags zu hinterfragen. Die Spirale ihrer Gedanken gerät ins Rotieren und lässt Ingrid komplett aus der Balance geraten. Jede noch so kleine Handlung, jeder Kontakt im Lehrerzimmer ist ihr zuwider. Ingrid bereut es, ihre beiden Kinder bekommen zu haben, da diese sich im Hotel Mama immer noch die Bremsspuren in der Unterwäsche durch sie entfernen lassen. Gerade als Ingrid immer weiter in der großen Krise ihres Lebens zu versinken droht, platzt die Bombe an einer Stelle, die sie nie für möglich gehalten hätte.
Jan hadert mit dem von ihm eingeschlagenen Lebensweg. Gerne wäre er als Musiker unterwegs und nicht als Referatsleiter im Ministerium, dazu der unemotionale Wochensex mit Ingrid, der konsequent betrieben wird und verhindern soll, dass sich die beiden voneinander entfernen. Da geschieht es aus heiterem Himmel nach einer Feier mit Kollegen: Gerade noch hatte Jan einen Auftritt auf der Bühne mit Gitarre und Mikrofon, da setzt sich die fünfzehn Jahre jüngere Hanne zu ihm. Ein zu langer und zu hoch angesetzter Griff an Hannes Oberschenkel, schließlich noch ein von Hanne eindeutig zweideutig mit dem Mund bearbeiteter Mittelfinger, schon landen die beiden im Taxi auf dem Weg in Hannes Wohnung. Anderthalb Jahre lang läuft diese Affäre mit allen erdenklichen Aufs und Abs, bis Jan schließlich den Mut fasst, Ingrid die Wahrheit zu erzählen.
Die norwegische Schriftstellerin Nina Lykke, selbst um die Fünfzig, hat mit "Aufruhr in mittleren Jahren" ihr Debüt auf dem deutschen Büchermarkt hingelegt. Mit Kritikerpreisen war sie in ihrem Heimatland überhäuft worden, so dass der Weg in die internationalen Buchläden längst überfällig war. Mit dem vorliegenden Buch beschreibt sie eine Situation, wie sie sicherlich in vielen Ehen auf dem Globus abläuft, doch setzt sich ihre Geschichte deutlich ab von den einschlägigen Romanen. Lykke hat die Dreiecksbeziehung zwischen Ingrid, Jan und Hanne nämlich am Abgrund zur Satire platziert und ihre drei Hauptcharaktere mit allen Macken und Psychosen ausstaffiert, die diesem Roman einen besonderen Esprit verleihen. Bissig und bisweilen zynisch schildert sie in Rückblicken das scheinbar perfekt funktionierende Eheleben von Jan und Ingrid, bis sich die Eigenheiten der beiden Bahn brechen.
Als Leser muss man bereit sein, zu Beginn des Buchs etwas zu investieren. Die ersten Kapitel mit der Einführung der gedanklich völlig überdrehten Protagonistinnen sind schon starker Tobak, der auch eingedenk der Frequenz von Nina Lykkes Schreibstil auf einen einprasselt, so dass man sich wehren möchte gegen so viel Irrationalität, wie sie Ingrid und Hanne an den Tag legen. Hat man sich dann aber erstmal mit den Charakteren arrangiert, liest sich "Aufruhr in mittleren Jahren" tatsächlich in einem einzigen Rutsch. Lykke gelingt es, die anderthalb Jahre der Affäre und den Übergang in das neue Leben der drei Neurotiker durchaus ambivalent zu schildern, indem sie in den verschiedenen Kapiteln unterschiedliche Erzählperspektiven anwendet. Völlig losgelöst vom Boden der Realität wird es schließlich dann, wenn sich die Autorin Ingrid zuwendet und diese beginnt, im Auto zu übernachten und ihr gesamtes Leben aus dem Heim der Familie auszulagern.
Nina Lykke hat ihrem Roman ein interessantes Eingangszitat aus dem Jahre 1956 vorangestellt, in dem vom damaligen schwedischen Ministerpräsident vor der Unzufriedenheit der hohen Erwartungen gewarnt wird. Und genau dies ist der Kern des vorliegenden Buchs: Menschen, die alles haben und alles können, aber dummerweise auch noch alles wollen. Dabei unterscheidet sich die norwegische oder skandinavische Zivilisation in keinster Weise von der hiesigen: Wohlstandsgesellschaften, die wie die sprichwörtlichen Kühe aufs Eis gehen, wenn es ihnen zu gut geht. Die Autorin bereitet ihren drei Hauptdarstellern schließlich Wege, die sich so anfänglich garantiert nicht hätten prognostizieren lassen. Denn am Ende ist es gar die Betrogene, der es auf ihre sehr eigentümliche Art und Weise gelingt, das Beste aus der Situation zu machen, während sich die beiden anderen mit ihrem Tun und Treiben einen Rucksack der besonderen Art gepackt haben. "Aufruhr in mittleren Jahren" ist ein in mittleren Jahren zu lesendes Buch, das einen mal erheitert, mal traurig stimmt, aber vor allem ganz lange noch nachdenklich zurücklässt.
Christoph Mahnel
26.03.2018