Erzählbände & Kurzprosa
Ein Märchen ist nicht tot zu kriegen
Die grundlegendste Handlung der "Das tapfere Schneiderlein"-Fassung von Chevillard entspricht dem bekannten Märchen der Brüder Grimm. Nachdem sieben böswillige Fliegen erschlagen wurden, entscheidet ein Schneiderlein, dass es zum Helden bestimmt sei und zieht in die Welt hinaus. Gerüstet mit dem Gürtel, der die Bezwingung von "Sieben auf einen Streich" verkündet, sucht es das Abenteuer. Listig wie ein Fuchs, überwindet es schreckliche Riesen, gefährliche Einhörner und wilde Eber. Dadurch gewinnt das Schneiderlein die Hand einer Prinzessin und wird König seines eigenen Reiches.
So weit, so falsch - denn der Erzähler dieses "tapferen Schneiderleins" ist überzeugt, dass die Grimmsche Version weder Hand noch Fuß habe. Bemüht darum, die Geschichte realistischer zu gestalten, versucht er angestrengt, seinen Helden zu Fall zu bringen. Dumm nur, dass das Schneiderlein partout nicht von seinem im Volksmund gefestigten Weg abweichen will, ob dieser nun glaubwürdig sei oder nicht.
Chevillards Werk ist für Kenner der Grimm´schen Märchen sowie für philosophische Köpfe ein wahrer Genuss. Gerne hält der Erzähler für eine Weile in der Geschichte inne, beleuchtet seine Gedankengänge und abstrakten Theorien, während sich das Schneiderlein hinter seinem Rücken dem vermeintlich sicheren Untergang entzieht und putzmunter an ihm vorbei spaziert.
Wieder und wieder schlagen die Versuche des Erzählers fehl, dem Märchen eine neue Wendung zu geben. So ist zwar der Held nicht sonderlich moralisch, die Prinzessin nicht sonderlich glücklich und das Einhorn nicht sonderlich reinlich - und doch sind sie alle an ihrem Platz und erfüllen ihren Part. Am Ende bleibt dem Erzähler nur ein Triumph: Acht auf einen Streich!
Jennifer Runde
21.12.2015