Erzählbände & Kurzprosa
Gescheiterter Versuch sozialer Integration
Mit der Verleihung des Nobelpreises f?r Literatur ist Mario Vargas Llosa im vergangenen Jahr im Alter von 74 Jahren in den Literatur-Olymp aufgestiegen. Ein Jahr sp?ter ist er gleich mit zwei Neuerscheinungen auf dem deutschen Buchmarkt vertreten. "Der Traum des Kelten", sein neuer Roman, und die Erz?hlung "Die jungen Hunde" erscheinen p?nktlich zur Buchmesse in Frankfurt. Wobei Letzteres nur bedingt eine Neuerscheinung ist, denn die Erz?hlung stammt urspr?nglich aus dem Jahre 1967. Damals fiel sie in Peru, der Heimat Vargas Llosas, der Zensur zum Opfer, wurde jedoch von einem spanischen Verlag zusammen mit 35 Fotografien des Katalanen Xavier Miserachs ver?ffentlicht. Diese spezielle Ausgabe der Erz?hlung ist nun erstmals in Deutschland - in einer Neu?bersetzung von Susanne Lange - erschienen.
Hauptfigur der Erz?hlung, die seitenm??ig etwa die H?lfte des 100 Seiten starken Bandes ausmacht, ist Cu?llar, der von allen nur "Pichula" oder "Pichulita" ("Schw?nzchen") genannt wird, seit er in seiner Jugend von einem Hund gebissen und sexuell verst?mmelt wurde. Seither versucht Cu?llar mit dem Leben als Au?enstehender, als Au?enseiter in einer Clique Halbw?chsiger, bei denen sich alles um Sport, M?dchen und Tanzabende dreht, zurechtzukommen. Mit zunehmendem Alter gelingt ihm dies immer weniger. W?hrend seine Freunde sich mit M?dchen verabreden, auf die Uni gehen, einen angesehenen Beruf ergreifen und heiraten, dr?ngen ihn die Gesetze einer Gesellschaft, in der nur "Normale" ihren Platz finden, immer weiter an den Rand.
So wie Cu?llar nicht in eine Gesellschaft voller Konventionen passt, bricht auch Vargas Llosas Stil mit vielen Konventionen: Der Leser findet sich in einem Gewirr von direkter und indirekter Rede, von Perspektivenwechsel - mal bezeichnet der Erz?hler sich und seine Clique als "wir", mal als "sie" - und von schnellem Wortwechsel. Auf orthographische Kennzeichnung durch Anf?hrungszeichen, die dem Leser die Orientierung erleichtern und ihm Anhaltspunkte liefern w?rden, wird verzichtet. Geradewegs so ?berfordert und verloren muss sich Cu?llar f?hlen, der sich in einer vor Kraft und Jugend nur so trotzenden Gesellschaft immer als "halber Mann" f?hlt und keinen Lebensinhalt finden kann. Dem Leser allerdings gelingt es nach einer gewissen Zeit, die Orientierung in dem permanenten Strudel der W?rter zu finden - vorausgesetzt, er l?sst sich auf Vargas Llosas Vorgaben und Tempo ein. Cu?llar hingegen konnte sich nicht auf die Vorgaben der Gesellschaft einlassen und verlor deshalb immer mehr die Orientierung.
Die Schwarz-Wei?-Fotografien des katalanischen K?nstlers Xavier Miserachs sind der Erz?hlung in diesem Band in vier Abschnitten - entsprechend den Entwicklungsstadien der Jugendlichen bzw. Erwachsenen - zugeordnet. So bildet die erste Fotostrecke z. B. den Drill der spanischen Schulkinder der 1960er Jahre ab; die n?chste zeigt Jugendliche bei ersten Tanzveranstaltung oder in Bikini und Badehose am Strand; die abschlie?enden Fotografien zeigen Erwachsene, die ausgelassen feiern und teure Autos fahren. Die Szenen und Stimmungen, die Miserachs in seinen Fotos eingefangen hat, bilden die passende visuelle Ebene zu Vargas Llosas Erz?hlung. Diese in jeder Hinsicht besondere und haptisch wie optisch hochwertige Ausgabe von "Die jungen Hunde" ist ein Schmuckst?ck, das durch die Verschmelzung von Literatur und Fotografie zwei Kunstformen zur Perfektion bringt.
Sabine Mahnel
10.10.2011