Erzählbände & Kurzprosa

Wiederholte Spiegelungen in Bild und Text

Einfache Leinenbände mit leeren Seiten, die der Verleger seinem Autor auf dessen Wunsch hin zukommen ließ, standen am Anfang des Büchermachens, sogenannte Blindbände. Zwischen deren Buchdeckel schrieb Günter Grass frühe Fassungen seiner Werke, die - über- und ausgearbeitet in maschinenschriftlicher Form - schließlich als Druckfassungen am Ende wieder in Buchform Gestalt annahmen. Wie der Schriftsteller Romane graphisch entwarf - man denke nur an die Arbeitspläne und Konzept-Lithographien zu "Die Rättin" -, so verband er in den Blindbänden entsprechend immer wieder Gezeichnetes/Graphisches und Geschriebenes. Grass hatte keine Ausbildung als Buchgestalter, aber er entwickelte sich zu einem solchen, indem er seine Doppelbegabung als bildender Künstler und Schriftsteller sowie seine konkreten Vorstellungen von der ersten Idee bis zum fertigen Buchkonzept in den Gestaltungsprozess einbrachte, in enger Zusammenarbeit mit Gerhard Steidl. Das Resultat sind kunstvolle und zugleich unverwechselbare Bücher von und über Grass, die seit "In Kupfer, auf Stein" (1986) bei Steidl erschienen sind.

Im Grass-Archiv und an der Universität Göttingen haben sich Heinrich Detering, Lisa Kunze und Katrin Wellnitz auf die Spuren des Buchkünstlers Grass begeben. Die Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Spurensuche präsentiert die vorliegende Aufsatzsammlung. Detering ist spätestens seit dem überaus lesenswerten ausführlichen letzten Gespräch mit dem Schriftsteller, das 2017 erschienen ist, als ein vorzüglicher Kenner und Vermittler des Werks von Grass auch außerhalb der akademischen Welt bekannt. Er und seine Mitarbeiterinnen sichteten alle Text-Bild-Bände von der im Luchterhand Verlag erschienenen Sammlung "Die Vorzüge der Windhühner", in der Textsatz und Zeichnungen noch getrennt erscheinen (wenngleich die Zeichnungen Hinweise zum Verstehen von Lyrik und Kurzprosa geben), bis zu "Vonne Endlichkait", jenem Requiem im vielgestuften Grau mit seiner engen Text-Bild-Verzahnung, für die Grass noch in den Korrekturfahnen letzte Änderungen an Position und Größe von Abbildungen festlegte.

Da er wie Goethe die Welt nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Zeichner wahrnahm, entwickelte Grass Bücher wie "Zunge zeigen", "Totes Holz" u.v.a.m. aus Graphiken von Gegenständlichem, manchmal auch von Ziffern und Buchstaben (wie "Mein Jahrhundert", "Grimms Wörter"), aus Text-Bild-Skizzen etc. Dies alles stellt die vorliegende Sammlung von Beiträgen zum Thema "Günter Grass als Buchkünstler" facetten- und kenntnisreich dar. Am Anfang der Reihe der Beiträge steht - nach einer kurzen Einleitung - ein Gespräch Deterings mit Steidl. Es gibt detaillierte Einblicke in die Grass'sche Werkstatt, auf den Buchgestaltungsprozess von den ersten Entwürfen über die Wahl der Schrifttype bis hin zur Papiersorte. In gewisser Weise findet damit das 2017 veröffentlichte, letzte ausführliche, aber unvollendet gebliebene Gespräch mit dem Literaturnobelpreisträger eine würdige postume Fortsetzung.

Das vorliegende Sammelwerk hat nicht nur schöne Bücher zum Gegenstand, es liegt auch selbst als ein überaus schön gestaltetes Buch mit zahlreichen Abbildungen vor. Man muss es nicht gelesen haben, um große Freude an den darin behandelten Text-Bild-Büchern zu haben, aber es verhilft deren Betrachter und Leser zu einer höheren, größeren Freude, die darin besteht, die wiederholten Spiegelungen in Bild und Text im Grass'schen Œuvre überaus fundiert offengelegt zu sehen.

Holger Schwinn 
03.07.2023

 
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Das Buch:

Heinrich Detering, Lisa Kunze, Katrin Wellnitz: Günter Grass als Buchkünstler

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Göttingen: Steidl Verlag 2022 336 S., € 34,00 ISBN: 978-3-96999-117-6

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