Erzählbände & Kurzprosa
Urteilen Sie selbst!
Der Münchener Strafverteidiger Ferdinand von Schirach hat sich in den vergangenen Jahren als Schreiber von einprägsamen Kurzgeschichten hervorgetan. "Verbrechen" und "Schuld" lauteten die Titel der beiden von ihm in den Jahren 2009 und 2010 herausgebrachten Erzählbände, in denen er Kurzgeschichten aus seiner anwaltlichen Tätigkeit veröffentlichte. Es folgten in den vergangenen Jahren mit "Der Fall Collini" und "Tabu" zwei weitere Romane und einige Verfilmungen seiner Geschichten. Parallel erschiene Hörbücher erfreuten sich gleichermaßen großer Beliebtheit. Von Schirach ist mittlerweile zum Millionenseller geworden, so dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er seinen nächsten Erfolg landen würde.
"Strafe", wiederum ein Titel, der entsprechend der Sprache des Autors mit Knappheit glänzt, ist das neueste Buch aus der Feder Ferdinand von Schirachs. Zurück zu den Wurzeln möchte man meinen, denn "Strafe" enthält wie "Verbrechen" und "Schuld" eine Zusammenstellung von mehreren Kurzgeschichten. Zwölf Stück an der Zahl sind es, und kurz sind sie allesamt. Das vorliegende Büchlein umfasst keine 200 Seiten, und die längste der zwölf Geschichten kennt gerade einmal 31 recht großzügig bedruckte Seiten. Doch von Schirach braucht keinen langen Anlauf, wenn er seine "Stories" platzieren möchte. Selbst die drei nur sechs, sieben oder acht Seiten langen Geschichten verfehlen ihre Wirkung beim Leser nicht.
Zum Einstieg berichtet der Autor in "Die Schöffin" von Katharina, einer Frau, die als Kind die sie prägenden Umstände bei der Scheidung ihrer Eltern ertragen musste und später im Erwachsenenalter widerwillig als Schöffin zu Gericht bestellt wird. Dort kann sie in einem Fall ob ihrer eigenen Vergangenheit nicht anders agieren, was später schließlich tragische Konsequenzen nach sich ziehen wird. In "Nachbarn" erzählt von Schirach die traurige Geschichte von Brinkmann, einem Mann, der seine geliebte Frau nach 24 Jahren gemeinsamer Zeit verloren hat. Die folgenschwere Begegnung mit den Nachbarn und vor allem mit der seiner verstorbenen Frau ähnelnden Nachbarin führt schließlich dazu, dass Brinkmann zu einer mörderischen Tat verleitet wird, um das Vakuum an seiner Seite zu füllen.
Ferdinand von Schirach besitzt die wunderbare Gabe, seine Geschichten in scheinbar vollkommener Neutralität zum Besten zu geben. Da wird nicht geurteilt, nicht bewertet und schon gar nicht verurteilt. Man ist als Leser verblüfft, wie die Schilderungen der Taten in den einzelnen Geschichten so sehr auf Fakten ausgerichtet sind und der Autor mit keiner Silbe die Einschätzung des Gelesenen für einen übernimmt. Somit ist man gezwungen, sich seinen eigenen Reim auf die Faktenlage zu machen und eine eigenständige Bewertung vorzunehmen. Dabei ertappt man sich das eine oder andere Mal dabei, wie leicht und schnell man eine Verurteilung ausgesprochen hätte, wäre einem die Geschichte vorgefärbt zu Ohren gekommen. "Strafe" gibt einem gleichzeitig eine Ahnung, wie ähnlich faktenfixiert Richter ihre Arbeit zu verrichten haben. Denn nur wer sich zu keinem voreiligen "Gut" oder "Böse" verleiten lässt, der wird auch angemessene und gerechte Urteile fällen können.
Auch wenn die zwölf Kurzgeschichten in "Strafe" gut und gerne an einem Abend runtergelesen werden könnten, empfiehlt es sich, dieses Büchlein wohldosiert zu genießen. Der aufmerksame Leser wird selbst spüren, dass er nach dem Konsum einer einzigen Geschichte etwas Zeit braucht, um diese entsprechend nachwirken zu lassen. Natürlich, denn von Schirach lässt jegliche Bewertung außen vor, und der Leser möchte bewerten, was er aber nicht vorgekaut bekommt, sondern in Eigenverantwortung zu bewerkstelligen hat. Dies führt schließlich dazu, dass jede der zwölf vorliegenden Kurzgeschichten den Leser maximal berührt und gewaltig nachhallt. Ferdinand von Schirach ist mit "Strafe" neuerlich ein großer Wurf gelungen, der sein Standing als feinsinniger Rechtsautor weiter untermauern wird.
Christoph Mahnel
05.03.2018