Wissenschaften
Was erlauben Varus?
Dass es sich bei der Geschichtsforschung und der Archäologie durchaus um schnelllebige Wissenschaften handeln kann, zeigt das Beispiel der sogenannten Varusschlacht, bei der einst der römische Feldherr Varus gegen einen zusammengewürfelten Haufen germanischer Stämme eine der vernichtendsten Niederlagen der gesamten römischen Geschichte hatte hinnehmen müssen. Die Schlacht selbst datiert aus dem Jahre 9 nach Christus; der Nachwelt erhalten wurden diese Vorgänge durch den römischen Geschichtsschreiber Tacitus gegen Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts. Danach dauerte es eine sehr lange Zeit, bis um das Jahr 1500 herum diese Schriften des Tacitus wiederentdeckt und veröffentlicht wurden.
Was allerdings in den letzten Jahren an Neuigkeiten und aktuellen Entwicklungen zu diesem Thema auf die Geschichtsforscher niederprasselte, erscheint für eine so lange zurückliegende geschichtliche Begebenheit höchst bemerkenswert. Dies war Anlass genug für den Erlanger Geschichtsprofessor Boris Dreyer den aktuellen Kenntnisstand der Geschichtsforschung zur Varusschlacht in dem vorliegenden historisch-archäologischen Führer zusammenzutragen. "Orte der Varuskatastrophe" lautet der Titel des Buchs aus der Feder des anerkannten Experten in römischer und griechischer Geschichte, der in der Vergangenheit schon einige Publikationen zur Rangelei zwischen Varus und Arminius veröffentlicht hat.
Aufgrund besagter Schnelllebigkeit in der gegenwärtigen Erforschung der Varusschlacht ist ein aktuelles Kompendium wahrlich von Nöten. Man denke nur an die Jahrhunderte währende fehlerhafte Lokalisierung des Schlachtgebiets. So sprach man lange Zeit synonym auch von der Schlacht im Teutoburger Wald, da man eben dort die Kampfhandlungen vermutet hatte. Erst in den Neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war man dazu übergeschwenkt, die Region Kalkriese im Osnabrücker Land als die wahrscheinlichste Stätte der Varusschlacht zu akzeptieren. Doch nicht nur der Ort der Schlacht änderte sich im Laufe der Jahrhundert, auch der Umgang in Deutschland mit dem nationalen Mythos hinter diesem Sieg über den römischen Usurpator.
Dreyer hat sein neuestes Werk sehr geradeaus, neudeutsch für "straightforward", konzipiert. Er beginnt mit einer Vorstellung der beiden Protagonisten Arminius und Varus sowie deren Wirkungskreise, bevor er in seinem zentralen Kapitel auf die Stätten der Varusschlacht eingeht. Im weiteren Verlauf des Buchs blickt er bereits über die Varusschlacht hinaus und widmet sich den Germanicusfeldzügen, quasi den römischen Rachefeldzügen nach der Schmach des Varus. Sämtliche historischen Schlachten analysiert Dreyer stets auf der Basis literarischer sowie archäologischer Belege. Um genauer auf die Besonderheiten der römisch-germanischen Grenzstreitigkeiten eingehen zu können, stellt der Autor darüber hinaus eine umfassende Übersicht über die römischen Stätten und Präsenzen in Germanien zusammen.
Wer die Varusschlacht betreffend auf Ballhöhe agieren möchte, ist mit dem vorliegenden historisch-archäologischen Führer "Orte der Varuskatastrophe" perfekt ausgerüstet. Trotz des scheinbar kärglichen Formats überzeugt dieses Werk aus dem renommierten Theiss Verlag mit inhaltlicher Tiefe und einer geballten Darstellung des gegenwärtigen Kenntnis- und Forschungsstands zu derjenigen Schlacht, die mit ihrem unerwarteten Ausgang noch heute für ungläubiges Kopfschütteln sorgt und deren geschichtswissenschaftliche Karriere darüber hinaus höchst skurril anmutet. Im Anhang finden sich neben einer ausführlichen Zeitleiste und einem umfänglichen Literaturverzeichnis auch noch die zentralen Koordinaten für ausgewählte Museen zum Thema, so dass nach dem zwar lebendigen, aber wissenschaftlichen Abriss den praktischen Vor-Ort-Besuchen nichts mehr im Wege steht.
Christoph Mahnel
02.12.2014