Wissenschaften

Unbekannte Khmer

Unzählige Touristen dürften diese Erfahrung gemacht haben: Man erfüllt sich einen Lebenstraum und reist nach Kambodscha, um die sagenhaften Tempel von Angkor zu sehen. Ob ihrer umwerfenden Schönheit steht man staunend vor den Bauwerken im kambodschanischen Dschungel, doch hat man weder eine Ahnung über die Kultur der Khmer noch vermag man deren Epoche in die Weltgeschichte einordnen. Eventuell wird man auf seiner Reise von Tempel zu Tempel mit einigen Jayavarmans konfrontiert, doch was diese konkret geleistet haben, entzieht sich jedweder Kenntnis. Wie dienlich wäre doch vorab ein gewisses Studium der Geschichte der Khmer gewesen!

Einen perfekten Überblick über die Schönheit und Bedeutung der Khmer-Kultur sowie eine zeitliche und geschichtliche Einordnung ins Große und Ganze liefert das vorliegende Werk Stefano Vecchias, das schlicht mit "Die Khmer" betitelt ist. Der italienische Journalist studierte einst asiatische und orientalische Sprachen sowie deren Kultur. Heute berichtet Vecchia über seine Reisen und die Kunst im südostasiatischen Raum. Das vorliegende Buch war im Original vor vier Jahren in englischer Sprache bei einem italienischen Verlag erschienen. Nun liegt es dank des herausgebenden Verlags Philipp von Zabern erstmals in deutscher Übersetzung vor.

"Die Khmer" kommt in einem sehr handlichen Format daher. Trotz einer Zwischengröße besticht das Werk durch tolle und großformatige Aufnahmen, die einen augenblicklich in den kambodschanischen Dschungel nahe Siem Reap versetzen; schließlich liegt der visuelle Fokus unzweifelhaft auf den Tempelanlagen von Angkor. Stefano Vecchia liefert mit seinem Buch dem interessierten, aber unkundigen Leser einen hervorragenden Einstieg in die Welt der Khmer. Gleich nach seinen einführenden Worten gelingt es ihm, auf einer einzigen Doppelseite mit einer übersichtlichen Landkarte sowie einer kurzen und prägnanten Beschreibung der fünf relevanten Epochen den Rahmen für alles weitere abzustecken.

In vier zentralen Kapiteln führt Vecchia den Leser durch mehr als zwei Jahrtausende südostasiatische Geschichte. Im Kapitel "Die Ursprünge" spannt er den Bogen vom Prähistorischen aus vorchristlichen Jahrhunderten bis hin zu den Vorläufern der Kultur von Angkor: Funan und Chenla waren zwei staatliche Strukturen unter hinduistischem Einfluss, die letztlich den Boden für die zentrale Angkor-Epoche zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert bereiteten. Dieser widmet er sich dann in "Ein Reich entsteht", das mit einem der bereits erwähnten Jayavarmans beginnt, und zwar dem II. mit solchem Namen. Jayavarman II. steht für den Beginn der Blütezeit der Khmer. Seine Krönung lässt sich mit 802 n. Chr. zwar datieren, doch sind Primärquellen zu ihm sehr rar gesät. Zumindest aus Sekundärquellen bringt man einiges über ihn in Erfahrung, unter anderem, dass mit seiner Herrschaft der Buddhismus in der Region an Bedeutung gewann.

Die Blütezeit der Khmer wird in "Die Khmer-Zivilisation auf dem Höhepunkt" weiter fortgeführt. In diesem Kapitel, dem aufgrund der vielfältigen Ereignisse der zentralen Angkor-Epoche der meiste Raum im vorliegenden Buch eingeräumt wird, entstehen einige der heute millionenfach bewunderten Tempelanlagen am Tonle Sap. Angkor Wat selbst wird dort zwischen 1130 und 1150 von Suryavarman II. errichtet.

Schließlich schildert Vecchia in einem recht kurz gehaltenen und abschließenden Kapitel den Niedergang der Khmer-Kultur ab dem 14. Jahrhundert, als die Thai sukzessive Angkor und weitere Stätten der Khmer eroberten. Versunken im schwer zugänglichen Dschungel entzündete sich das Interesse an den Khmer erst einige Jahrhunderte später, als die Franzosen dieses Gebiet annektierten und es als einen Teil Indochinas einverleibten. 1860 erwachte Angkor schließlich aus seinem Dornröschenschlaf, nachdem der französische Forscher Henri Mouhot die Ruinen im Urwald entdeckte.

Stefano Vecchia beleuchtet die Geschichte der Khmer auch aus der Sicht des heutigen Kambodscha, das in den Siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts durch die Schreckensherrschaft Pol Pots arg gebeutelt und um Jahrzehnte gegenüber seinen Nachbarn zurückgeworfen wurde. Allmählich besinnt man sich in Kambodscha wieder auf die eigene Geschichte und Kultur, was der notwendigen Identitätsfindung dieses Volks enorm helfen wird.

Der Autor hat mit "Die Khmer" eine umfangreiche Einführung in die Geschichte einer hierzulande fast unbekannten Kultur abgeliefert, die auch dank des kleinen Glossars im Anhang sehr gut verständlich ist und eine Brücke von den fernen Khmer hin zu den Lesern aus der abendländischen Zivilisation schlägt. Beim Studium von Vecchias Buch sehnt man sich des Öfteren nach einer Zeitmaschine, um der Entstehung der Khmer-Kultur beiwohnen zu können und womöglich Antworten auf die vielen offenen Fragen zu finden - allerdings nur mit einer Rückfahrkarte in die Gegenwart!

Christoph Mahnel
14.10.2013

 
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Das Buch:

Stefano Vecchia: Die Khmer. Geschichte und Schätze einer alten Zivilisation. Aus dem Englischen von Cornelius Hartz

Darmstadt/Mainz: Verlag Philipp von Zabern 2013
208 S., € 29,99
ISBN: 978-3-8053-4670-2

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