Wissenschaften

Eine ungewöhnliche Alpinismusgeschichte , die die Geschichte des Alpinismus erst möglich macht

Noch im 17. Jahrhundert hat man es f?r Wahnsinn gehalten, auf die Berge zu steigen und dabei sein Leben auf das Spiel zu setzen. Gebirge waren als die "wildesten Werke der Natur" unbrauchbar f?r die Landwirtschaft und galten als gef?hrliche Orte. In den Jahrhunderten der Menschheitsgeschichte wagten sich zwar immer wieder Menschen in das Territorium des "?bernat?rlichen und Feindseligen", immer aber gezwungen durch Notwendigkeiten oder aus einer Notlage heraus: Berge dienten als Zufluchtsort f?r V?lker im Belagerungszustand oder mu?ten von Soldaten, Missionaren und H?ndlern durchquert werden. Vor allem aber galten Berge in ?sthetischer Hinsicht als absto?end. Die zerkl?fteten, gewaltigen Umrisse der Berge empfand man als etwas, "was den nat?rlichen Gleichmut der Seele st?rte". Berge wurden als "Warzen, Geschw?lste und Wucherungen im Antlitz der Erde" abgewertet.

Robert Macfarlane schreibt in seinem Buch "Berge im Kopf" eine Geschichte des Alpinismus, die den Sinneswandel gegen?ber den Bergen als Leitmotiv hat. Er zeichnet nach wie es dazu kam, da? aus den Geschw?ren im Antlitz der Erde "Arenen intensiver Erlebnisse" wurden, wie sich die nackte Angst beim Steigen in den Bergen zu der Suche nach dem Erhabenen verwandelte. Wie zu dem Drang nach dem Erhabenen die Wertsch?tzung der Ph?nomene des Gebirges hinzukam: der Formen des Gesteins, des Ausblicks von der H?he. Macfarlane sp?rt diesem Wandel vor allem in der Wissenschafts- und Kulturgeschichte nach. Das heutige Bergsteigen, das in einer zunehmend reglementierten und geordneten Welt allein aus einem Bed?rfnis entspringt, Freir?ume zu erleben und sich an der ?sthetik der Berge zu erfreuen, ist nur m?glich aus einer geistigen Haltung heraus, die in den letzten drei Jahrhunderten entstanden ist. Bei den ersten "Bergsteigern" waren wissenschaftliche Forschung und Entdeckerdrang noch vorherrschende Motivation um die Welt der Berge sukzessive zu erschlie?en. Erschlie?ung meint hier neben der physischen vor allem die "Berge im Kopf". Die These des Buches ist, da? das was wir einen Berg nennen "in Wirklichkeit das Zusammenspiel der physischen Erscheinungsformen der Welt und der menschlichen Vorstellungskraft ist. Gebirge sind wie Jahrhunderte zuvor Ansammlungen von Gestein und Eis".

Vom Schrecken der H?he zum lohnenden Gipfelblick

Das Kapitel "H?he: der Gipfel und die Aussicht" besch?ftigt sich mit der menschlichen Einstellung zu der H?he und den Bergen. W?hrend das Konzept der H?he im sakralen Bereich schon immer positiv besetzt war ? der Himmel war das Gute ? war H?hen in den Bergen in zweifacher Hinsicht negativ besetzt. Zum einen machten die mit der H?he verbunden k?rperlichen Beschwerden wie ?belkeit und Kopfschmerzen den fr?hen Reisenden klar, da? die "H?he und der menschlichen K?rper nicht gut zusammen pa?ten". Zum anderen war der Blick in die Tiefe so furchtbar, da? Alpendurchquerer sich die Augen verbinden lie?en und der Philosoph Bishop Berkley 1714 schrieb, da? "die f?rchterlichen Abgr?nde ihm doch sehr die Laune verdorben" h?tten.

Es waren einzelne Momente in Berichten von Reisenden, die zun?chst mit dieser allgemeinen, negativen Haltung der H?he gegen?ber H?henerlebnisse hatten, die sie trotzdem begeisterten. Der britische Chronist John Evelyn beispielsweise erlebt in den Bergen Norditaliens eine Inversion: Er durchstieg die dicke Wolkendecke und befand sich pl?tzlich ?ber den Wolken im glei?enden Sonnenlicht. Er wurde mit einem Ausblick belohnt, den er als "eines der angenehmsten, neuesten und insgesamt ?berraschendsten Dinge" charakterisierte, die er je gesehen hatte.

Robert Macfarlane bezeichnet dies als die ersten Momente, "in denen jemand seine instinktive Beziehung zu einer Landschaftsform offenbart, dabei f?r kurze Zeit aus der Zwangsjacke ?berkommener Ansichten schl?pft und neue Empfindungsweisen schafft." In dieser Passage scheint die zweite, etwas verdeckt mitlaufende Grundthese des Buches auf. Neben der kulturellen Pr?gung unserer Vorstellung von den Bergen vertritt Robert Macfarlane mit dem franz?sischen Philosophen Gaston Bachelard die Ansicht, da? es so etwas wie ein instinktives menschliches Bed?rfnis gibt, den Raum zu erforschen und in die H?he zu steigen.

Langsam begann sich eine Wertsch?tzung der H?he in den Bergen zu entwickeln bis in der zweiten H?lfte des 18. Jahrhunderts der Gipfel als eigenst?ndiges und erstrebenswertes Ziel auftaucht. Dieser Proze? wurde beg?nstigt durch gesellschaftliche Entwicklungen. Mit der wachsenden Urbanisierung bekamen die Menschen die negativen Aspekte dieser Lebensform zu sp?ren: Enge, Hektik, Schmutz und Kriminalit?t machten kleine Fluchten in die Weite der Berge notwendig. F?r das romantische Konzept der Glorifizierung des Individuums war der "Gipfel ein Ort, wo man alles ?berragte ? hervorragend sein konnte". Die H?he und die Berggipfel bekamen attraktive Merkmale, die uns heute so vertraut sind: Flucht, Einsamkeit, klare und saubere Luft, das physische wie metaphysische Weiter-Sehen-K?nnen. 1836 konnte Charles Darwin verk?nden, da? "jeder das Gef?hl von Triumph und Stolz kennen mu?, das ein gro?artiger Ausblick in der H?he dem Geist vermittelt".

Die Wertsch?tzung der H?he wurde zu einer allgemeinen geistigen Haltung. Dies zeigt sich auch darin, da? neben dem beginnenden Alpentourismus sich auch die Literatur ?ber die Berge verbreitete. Der Unterschied zwischen denen, die in die Berge stiegen und denen, die Fotos, Gem?lde und Literatur ?ber die Berge konsumierten war lediglich ein gradueller.

Die Suche eines Bergsteigers nach den Gr?nden der Anziehungskraft

Robert Macfarlane ist selbst Bergsteiger. Er bereichert seinen Streifzug durch die Wissenschafts- und Kulturgeschichte immer wieder mit Anekdoten aus seinem Bergsteigerleben. Der Leser kann sp?ren wie Macfarlane auch pers?nlich nach den Gr?nden seiner Begeisterung f?r das immer noch gef?hrliche Steigen in den Bergen sucht. Als Schl?ssel mag man hier die Beziehung zu seinem Gro?vater lesen. Von diesem passionierten Alpinisten erbte der junge Robert seine Vorstellung  ?ber die Berge. Als er ihn nach dem Warum fragte, bekam er keine Antwort. F?r den Gro?vater gab es keine und bedurfte es auch keiner Erkl?rung f?r die Anziehungskraft der Berge.

Macfarlanes Verdienst ist, nach einer Antwort gesucht zu haben. Was hier im Kleinen vom Gro?vater ?bertragen wurde, mu?te sich im Gro?en innerhalb von drei Jahrhunderten als kulturelles Ged?chtnis entwickeln: eine heute weitgehend als nat?rlich empfundene Wertsch?tzung des Gebirges und seiner Ph?nome. Den Leser erwartet eine spannende Alpinismusgeschichte, die im Aufzeigen der Entwicklung einer geistigen Haltung erst plausibel macht wie es zu einer Geschichte des Alpinismus ?berhaupt kommen konnte.

Auch der auf Bergsteigergeschichten fokussierte Bergfreund wird nicht nur im letzten Kapitel mit packenden Geschichten aus der Ersteigungsgeschichte versorgt. Im Kapitel Everest rekonstruiert der Autor die dramatische Geschichte des Briten George Mallory, der bei seinem dritten Besteigungsversuch des Mount Everest im Jahr 1924 zusammen mit Andrew Irvine unter gro?er ?ffentlicher Anteilnahme ums Leben kam. Die au?erordentliche Besessenheit von der Mallory befallen war, als erster Mensch auf dem h?chsten Berg der Erde  zu stehen, wird verst?ndlicher als Extremform der allgemeinen Haltung zu den Bergen als lohnenswertes Ziel. "Berge im Kopf" geh?rt literarisch zu den guten Werken der Alpinliteratur, durch seinen au?ergew?hnlichen Ansatz nimmt es einen herausragenden Platz ein.

Sascha M?ller
11.12.2005

 
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Das Buch:

Robert Macfarlane: Berge im Kopf. Die Geschichte einer Faszination

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Zürich: AS Verlag & Buchkonzept AG 2005
320 S., € 19,90
ISBN: 3-9091-1115-7

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