Wissenschaften

Verfall und Abschied im Werk Thomas Manns

Konsul Thomas Buddenbrook, der Schriftsteller Gustav von Aschenbach sowie der angehende Ingenieur Hans Castorp – um nur einige Figuren aus dem umfangreichen Interieur Mannscher Prosa zu benennen – teilen das Schicksal, in je besonderer Art und Weise dem zu erliegen, was Rüdiger Görner in seiner gleichnamigen Studie den "Zauber des Letzten" nennt. Vertieft sich der letzte Stammhalter der einst angesehenen Patrizierfamilie geradezu manisch in die Lektüre Schopenhauers, dessen pessimistische Philosopheme sich wie Sporen in das ohnehin kränkelnde Gemüt des Kaufmanns einnisten, so gibt sich der alternde von Aschenbach, dem nach eigener Aussage "eine unverbesserliche und natürliche Richtung zum Abgrunde eingeboren ist", dem tödlichen Gift der Schönheit hin, und Castorp? "Was in Venedig die Gondeln waren, sind in Davos die Schlitten, das gleitende Gefährt, auf dem sich symbolisch der Übergang ins Jenseits ereignet", schreibt Görner in gefälligem Stil und steter Aufmerksamkeit für den Dialog, den die Werke Manns miteinander führen.

Im Folgenden werden es vor allem die Spätwerke sein, denen Görner sich zuwendet, der Doktor Faustus, der Felix Krull, Der Erwählte, die späten Novellen: Die vertauschten Köpfe, Das Gesetz, Die Betrogene. Behutsam führt er den Leser in die Thematik seines Buchs ein, er entwickelt "Quasi eine Theorie des Späten", in der sowohl das Spielerisch-Ironische – Ausdruck der Freiheit des (künstlerisch schaffenden) Geistes – als auch das Zerrissene seinen Platz hat, wenn auch zauberhaft überdeckt: "In seiner Prosa fand das spätbürgerliche Kulturbewußtsein einen letzten Halt – nämlich im kunstvoll gebauten, subtilste Differenzierungen absichernden Satzgeflecht." Thomas Mann sah sich als Bewahrer des humanistischen Erbes, als Nachfahr Goethes, als später Repräsentant kulturbewussten Bürgertums; er sah aber auch das Problematische des deutschen Wesens, die Paarung von Innerlichkeit und Dämonie, Thema des Doktor Faustus, aber auch des persönlichen Offenbarungseids Bruder Hitler.

Görner stellt Mann andere Künstlerpersönlichkeiten zur Seite, die sich ebenfalls als Spätlinge in einer umnachteten Welt sahen. Eine eindringliche Studie ist der – von Mann geleugneten – "Wahlverwandtschaft" zu Richard Strauss gewidmet, mit dem sich die "klassisch-romantisch geprägte Tonalität zu Ende" sang. Demgegenüber bekannte sich Mann schon frühzeitig zu den russischen Klassikern, die Art der Gesprächsführung im Zauberberg knüpfe laut Görner unmittelbar an Turgenjews berühmten Roman Väter und Söhne an. Beide verbinde der Glaube an die Zauberkraft der Sprache, ihnen eigne eine "gewissermaßen homerische Selbstrechtfertigung" des eigenen Schaffens, die heutige Schriftsteller in diesem Maße nicht mehr vorweisen können. Im Zusammenhang der Tagebücher Manns werden letzte Lektüren betrachtet, etwa die von Marguerite Yourcenars Ich zähmte die Wölfin, die mit dieser fiktiven Biographie des Kaisers Hadrian den von Mann instinktsicher aufgefundenen "Zauber des Letzten" gebannt hat.

Görners umfassender Essay, der in vielen Einzelstudien dem Phänomen des Letzten bei Thomas Mann nachgeht, assoziiert in seinem humanistisch gelehrten, ständig Korrespondenzen schaffenden Referat mitunter frei, wenn er Ernst Barlachs Skulptur Fries der Lauschenden einen "Ausdruck des Späten" abgewinnt, "die Vorstellung, nur noch mit Masken des Gewesenen, der großen Traditionen zu tun zu haben." Görner kreiert auf diese Art und Weise einen Zusammenhalt der um 1900 geborenen Künstler, die den sich rings umher verströmenden Verwesungsgeruch humanistischen Bildungsguts mit Erschrecken wahrnahmen und es in einem an die Alten angelehnten, möglicherweise überkommenen Stil noch ein letztes Mal zu formen suchten.

Nicole Stöcker
19.11.2007

 
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Das Buch:

Rüdiger Görner: Thomas Mann. Der Zauber des Letzten

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Düsseldorf, Zürich: Artemis & Winkler Verlag 2005
340 S.
ISBN: 3-5380-7196-9

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