Wissenschaften
Von beutelustigen Abenteurern - vom Kap Bojador zu den Stammzellen
Es ist die Perspektive und das Hauptanliegen des Konteradmirals Bellec, des Verfassers, mit der "Entdeckung der Welt" die Geschichte des Bordalltags der Seeleute, "dieses speziellen Mikrokosmos" kennenzulernen. Die Nutzung der Primärquellen (Tagebücher, Logbücher, Briefwechsel) sollen dazu helfen, die "spontanen.,unverfälschten Eindrücke und Gefühle ihrer Verfasser [also der Entdecker] nachzuvollziehen".
Der Verfasser leistet jedoch vielmehr. Es ist seine besondere Kunst, mit einfachen Worten Zusammenhänge aufzuhellen, die überraschen. Etwa daß die kulturelle Elite der Renaissance praktisch kein Interesse für die Entdeckungsreisen der rohen Seeleute und Abenteurer aufbrachte. Für die Intellektuellen bot die Antike Orientierung. Athen war das Ideal. Aber der Hochmut war gegenseitig.
Zur Darstellungskunst Bellecs ein zweites Beispiel: Der Überwinder des Kaps Bojador, Gil Eanes, brachte zum Beweis seiner Entdeckung 1434 dem spanischen Infanten die ersten Rosen der Heiligen Maria. Bellec dazu: "Bei den Rosas de Sancta Marya handelt es sich um die Rosen von Jericho, verholzte ballförmige Gebilde, die damals so wertvoll waren wie für uns heute die ersten Gesteinsproben vom Mond." Bellec siedelt die Taten der Entdecker somit unmittelbar in unserer Erfahrungswelt an. Das allein macht das Buch spannend und lehrreich.
Der Verfasser weitet überdies unsere Vorstellung von der Geschichte der Entdeckungen, die von vielen unbekannten und nur wenigen berühmten Entdeckern vollbracht wurden. Sogar der Gebildete unter den Intellektuellen kennt heute nur die Creme de la Creme. Die umgekommen, verschollenen, unbekannten Seefahrer aber bereiteten die informatorischen, politischen, psychlogischen, wirtschaftlichen Grundlagen für einen Kolumbus, dessen Entdeckung überaus erstaunlich sein muß, wenn man weiß, daß er sich grob verrechnet hatte und deshalb [sic] in nur einem Monat und wenigen Tagen ein erstes Ziel erreichte.
Es wird eine wunderbare Vielfalt köstlicher Abbildungen dargereicht, gemischt aus Naturaufnahmen, historischen Darstellungen und Topographien, die die Stadien der Ausweitung des europäischen Gesichtskreises nachvollziehbar machen. Die Bildkonzeption ist insofern unkonventionell und läßt immer wieder sichtbar werden, daß wir uns nicht in einem abgeschlossenen Kapitel der Menschheitsgeschichte bewegen, sondern in einem bis heute andauernden Prozeß. Ob es nicht genau derselbe Prozeß ist, der sich nun nicht nur aus dem Erdenkreis hinaus dem Universum zuwendet, sondern auch den terrae incognitae, den unbekannten Universen in uns selbst. Ob die Entdeckerlust der Vasco da Gama und der anderen rohen, beutelustigen Abenteurer nicht identisch ist mit der Lust der Stammzellenforscher? Beängstigende Ahnungen steigen auf.
Ein Buch mit starken Impressionen, großartig freier Konzeption, die Gott sei’s gelobt gegen allerhand Konventionen verstößt, kein Bildband, kein Sachbuch, auch kein Buch über die "Entdeckung der Welt", sondern eine Würdigung des Menschen und des in seiner Schwachheit großartigen menschlichen Geistes. Ganz nebenbei vermerkt der Konteradmiral Bellec: "Meine Beschäftigung mit den Männern, die einst die Welt entdeckten, hat mich mit Demut erfüllt."
mhh
05.03.2002