Wissenschaften

Erinnerung an die "verbrannten Literaten"

Der Schweizer Literaturhistoriker und Essayist Walter Muschg ist bekannt für seine aufwühlenden Werke, die eine etwas andere Sicht auf die Literaturwissenschaft werfen. Zu nennen ist an dieser Stelle beispielsweise sein Hauptwerk "Tragische Literaturgeschichte", das 1948 erschien und zu seiner Zeit für viel Furore sorgte. Acht Jahre später sollte 1956 jenes Werk erscheinen, das auf weitaus mehr Widerhall stieß wie sein Vorgänger. In dem Essayband "Die Zerstörung der deutschen Literatur und andere Essays" widmet sich Muschg mit den sogenannten literarischen Expressionisten, die seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahre 1933 in der deutschen Literaturlandschaft ausradiert wurden - sei es durch Verbrennungen ihrer Bücher, ihre Vertreibung ins ausländische Exil oder deren systematische Ermordung. Damit diese nicht vergessen werden, hat Walter Muschg ihnen Essays gewidmet.

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert, die den Rezipienten in die faszinierende Welt der Literatur führen. Der erste Teil legt die Grundlagen für den Hauptteil, die Essays. Auf 200 Seiten erlebt der Leser eine Reise zurück in die Zeit der Herrschaft Adolf Hitlers über Deutschland. Walter Muschg behauptet mit einem eindringlichen, aber doch aufklärerisch-objektiv erscheinenden Sprachstil, dass Dichter wie Gottfried Benn, Alfred Döblin, Else Lasker-Schüler, Oskar Loerke und Georg Trackl durch das Wirken der Nationalsozialisten von dem Gros der heutigen Leser vergessen werden. Das mag vor 50 Jahren, als das Buch zum ersten Mal erschienen ist, noch tatsächlich der Fall gewesen sein. Im Laufe der Jahre hat in der deutschen Bevölkerung allerdings ein Wandel stattgefunden, sodass jene Dichter heutzutage als bekannt vorausgesetzt werden dürfen. Diese Schriftsteller mussten aus ihrer Heimat fliehen, um einer Verhaftung und anschließenden Internierung in einem der Konzentrationslager zu entkommen, während ihre Bücher indiziert und letzten Endes verbrannt wurden. Aber nicht nur diese literarischen Expressionisten bekommen im ersten Teil ihre Beachtung, sondern auch jene, die unter dem Einfluss des Expressionismus standen: Bertolt Brecht, Thomas Mann, Franz Kafka und Friedrich Dürrenmatt. Und so spricht der Autor Walter Muschg erst im Allgemeinen davon, was er im zweiten Teil im Speziellen aufdröselt.

Der zweite Teil bildet mit 26 Essays den Hauptteil dieses Bandes, der das Leben verschiedener Literaten (und deren Werke) beleuchtet. Für den Rezipienten mag es so erscheinen, dass dieser Bereich in zwei Untergruppen geteilt ist, die sich einerseits mit Autoren der Vergangenheit beschäftigen und sich anschließend modernen Schriftstellern zuwenden. So werden dem Leser mit Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Jean Paul, Annette von Droste-Hülshoff, Adalbert Stifter und Gottfried Keller bedeutende Schriftsteller aus der Vergangenheit vorgeführt, die starken Einfluss auf die Deutschen nahmen und doch mit ihren Werken die Missgunst der Nationalsozialisten auf sich zogen. Waren in den 1950er Jahren noch Werke wie Schillers "Wilhelm Tell" und "Die Judenbuche" von Annette von Droste-Hülshoff womöglich vergessen, erfreuen sich diese im 21. Jahrhundert einer Beliebtheit, die zuvor kaum vorstellbar war. Diese Autoren bilden die Grundlage für die Hinwendung zu den Autoren der Gegenwart des 20. Jahrhunderts. Da sind beispielsweise Georg Trackl, Hugo von Hofmannsthal, Franz Kafka, Else Lasker-Schüler, Ernst Balach, Alfred Döblin, Hans Henny Jahnn, Karl Kraus und Bertolt Brecht, die stellvertretend für all die anderen verfolgten Autoren zur Zeit des Dritten Reiches stehen.

Walter Muschg hat mit seinem fundamentalen Band "Die Zerstörung der deutschen Literatur und andere Essays" ein Werk geschaffen, das den Leser an vergessene Autoren erinnern soll und so auf ihre einzigartige Literatur aufmerksam macht. Das Buch ist inzwischen in der dritten Auflage erschienen und auch nach über 50 Jahren genauso aufrüttelnd und stellenweise erschütternd wie bei seinem ersten Erscheinen. Muschg stellt für sich die Anforderung, auf jene Autoren aufmerksam zu machen, die unter dem grausamen Wirken der nationalsozialistischen Machthaber zu leiden hatten und nur die Flucht ins Ausland als letzten Ausweg sahen. Von dort konnten sie dennoch wirken und sich Gehör verschaffen. Leider gelang es dem NS-Regime die ein oder andere Stimme nicht nur verstummen zu lassen, manche Stimme versank in den Tiefen der Vergangenheit und wurde vergessen. Muschg holt diese hervor und gibt ihnen die Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen. Wie sich im Laufe der Jahre erkennen lässt, ist Walter Muschg die Umsetzung dieses Anliegens größtenteils gelungen, auch wenn noch viel Arbeit vor uns liegt.

Susann Fleischer
27.07.2009

 
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Das Buch:

Julian Schütt, Winfried Stephan (Hg.): Walter Muschg: Die Zerstörung der deutschen Literatur und andere Essays

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Zürich: Diogenes Verlag 2009
960 S., € 32,90
ISBN: 978-3-257-06645-6

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