Wissenschaften

Stalins grausames Vermächtnis

Als Russland zusammen mit den anderen Siegermächten Frankreich, Großbritannien und Amerika im Zweiten Weltkrieg den österreichischen Staat bekämpfte und anschließend besetzte - ähnlich wie auch Deutschland -, wurde das Land in vier Besatzungszonen aufgeteilt, in denen die neuen "Besetzer" Recht sprachen. Während sich die drei westlichen Besatzungsmächte reserviert verhielten und wenige Todesstrafen gegen Kriegsverbrecher aussprachen, ging die Sowjetunion mit härtester Brutalität und unter strengster Geheimhaltung vor. Insbesondere von 1950 bis zu Stalins Tod 1953 sind 104 Menschen festgenommen, verhört, verurteilt und letzten Endes ermordet worden - und dies für Delikte, die sie nie begangen haben. Um diese Menschen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, haben Stefan Karner und Barbara Stelzl-Marx "Stalins letzte Opfer. Verschleppte und erschossene Österreicher in Moskau 1950-1953" herausgegeben.

Der fünfte Band aus der Reihe "Kriegsfolgen-Forschung. Wissenschaftliche Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung" ist besteht aus zwei voneinander unabhängigen Teilen. Während der erste Teil wissenschaftliche Beiträge österreichischer, russischer und deutscher Historiker enthält, sind im zweiten Teil Kurzbiografien aller 104 Opfer sowie der leitenden Mitarbeiter der Abteilung für Gegenspionage in Baden verzeichnet. Es geht in erster Linie um Menschen, die nach Artikeln der "Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik" (kurz RSFSR) wegen "Spionage", "Diversion", "Kriegsverbrechen", "Organisation eines bewaffneten Aufstandes", "Schädigung" oder "Terror" für schuldig erachtet wurden und somit mit der Todesstrafe zu rechnen hatten.

Die wissenschaftlichen Beiträge gewähren dem Rezipienten einen Überblick über die sowjetischen Todesurteile in Österreich, zudem widmen sie sich einzelnen Aspekten der vorgeworfenen Spionagetätigkeit, setzen sich mit zum Tode verurteilten Personen nichtösterreichischer Staatsangehörigkeit auseinander, zeichnen die Entwicklung der Todesstrafe in der Sowjetunion sowie der Organe der militärischen Spionageabwehr nach, geben die Geschichte des Donskoe-Friedhofes wieder, auf dem die Opfer ihre letzte Ruhestätte fanden, und gewähren einen Einblick in das Prozedere der Haft von der Festnahme bis zur Hinrichtung. Auf diese Weise wird erst eine Grundlage geschaffen, durch die man alle Hintergründe des diktatorischen Sowjet-Regimes erfährt. Die Autoren gehen auf sehr detaillierte Art vor, sodass dem Rezipienten zwar behutsam, aber doch in eindringlicher Schärfe ein grausamer Ausschnitt der Geschichte vermittelt wird.

Der anschließende zweite Teil hat den gleichen Stellenwert wie die wissenschaftlichen Beiträge. Vom Aufbau her sind die Kurzbiografien allesamt von gleicher Art: In einem durch Kursivschrift hervorgehobenen, abgesetzten Feld werden in stark verkürzter Weise alle wichtigen Lebensdaten des Opfers wiedergegeben. So erfährt man etwas über den Bildungsstand und kleine Details der Lebensumstände. Der Haupttext hingegen beschäftigt sich mit den Umständen der Verhaftung und geht an dieser Stelle mehr in die Tiefe. Anhand von Zitaten aus Verhörprotokollen kommen die Opfer selbst zu Wort, sodass sie eine Stimme haben, mit der sie sich Verhör verschaffen. Besonders im zweiten Teil bekommt das Buch eine intime, persönliche Note, die den Rezipienten erschauern lässt.

Stefan Karner und Barbara Stelzl-Marx haben mit "Stalins letzte Opfer" ein beeindruckendes und zugleich erschreckendes Zeugnis der Zeitgeschichte herausgegeben, in dem man den Lebensgeschichten unterschiedlichster Menschen nachgehen kann, die doch ein gemeinsames Schicksal vereint. Bereits die acht Porträt-Aufnahmen auf dem Buchcover wirken erschreckend, aufwühlend und zugleich aufklärend. Das Buch bietet die Grundlage, um komplexe Sachverhalte verstehen zu können. Man merkt, dass es sich in erster Linie an jene richtet, die sich wissenschaftlich mit diesem Thema beschäftigen möchten. Aber auch für andere, die ein grausames Kapitel aus der Vergangenheit eingehend beleuchtet haben möchten, ist das Buch gut geeignet. Und wer sich weiterhin mit diesem Thema beschäftigen möchte, findet im Anhang eine ausführliche Auflistung der Fachliteratur.

Susann Fleischer
06.07.2009

 
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Das Buch:

Stefan Karner, Barbara Stelzl-Marx (Hg.): Stalins letzte Opfer. Verschleppte und erschossene Österreicher in Moskau 1950-1953

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München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2009
676 S., € 39,80
ISBN: 978-3-486-58936-8

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