Wissenschaften

Monika Awe: Jedermann bei Tage und bei Nacht willig bedienen. Die Entwicklung des Apothekenwesens im Jadegebiet und in Wilhelmshaven/Rüstringen von 1853-1937

Die als Dissertation von der Fakultät der Lebenswissenschaften der TU Braunschweig angenommene Arbeit ist eine echte historische Feldstudie, denn Monika Awe hat die Geschichte aller Apotheken einer Landschaft durch intensive Archivforschung ausgehoben. Es ist ein Glücksfall, daß mit der 1869 neu gegründeten Stadt Wilhelmshaven die Entwicklung von der Stunde Null an nachgezeichnet werden kann. Die Studie setzt im definierten Gebiet mit der Vereinbarung zwischen Oldenburg und Preußen an, einen Kriegshafen zu erichten (1853). Es ist ein weiterer Glücksfall, daß hier der Nexus von Militär und der Neuausbildung stationärer Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung betrachtet werden kann.

Im Rahmen einer größeren Arbeit - etwa einer Habilitation - wären die Ergebnisse ein substantieller Beitrag zur Frage der Ausbildung des Gesundheitswesens für die Nationalstaatsausbildung. Es war die Zeit sozialer Reformen angebrochen, nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern weil die Philosophie der Aufklärung dem Individuum die Freiheit versprochen hatte, aber die Bevölkerung im industriellen Prozeß vernutzte und bis heute vernutzt. Es war Staatsräson des aggressiven Nationalstaats, der Bevölkerung, die ihr Leben im Arbeitsprozeß verbringt und um ihre Freiheit betrogen ist, im Gegenzug Gesundheits- und Lebensmittelversorgung sowie eine längere Lebenserwartung zu garantieren, um sie von einer revolutionären Systemänderung abzuhalten. Der Verstandesbefehl der Aufklärung ließ alle gleich werden und, weil alle Gleichen verfügbarer für den Staat sind, folgte die Auflösung der Familie, die soziale Vereinzelung in Singlehaushalte, Ideologeme wie die political correctness, die Transgenderideologie, die work-life-balance und andere Belohnungen, um das Wirtschaftssystem zu schützen, das im Interesse des Staates liegt.

Die Entwicklung des Apothekenwesens gehört genau in diesen Kontext und ist sozialpolitisch und wirtschaftspolitisch von eminenter Bedeutung. Monika Awe schildert akribisch, wie sorgfältig das Apothekensystem geplant und errichtet wurde. Wir erfahren, wie aufwendig die Konzessionierung war und daß die langfristige Existenz einer Apotheke durch Privilegien gesichert wurde wie die Vererbung der Konzession auf die fachunkundigen Witwen, die dann Apotheker abhängig beschäftigen durften.

Die Studie berührt die Gesundheitsverhältnisse der Zeit, das Rechtswesen, die Kameralistik, die als Dualität zwischen Oldenburg und Preußen ein Spezialfall gewesen ist. Der zeitliche Bogen reicht vom Deutschen Staatenbund, über das Zweite Kaiserreich (1871-1918) und die Weimarer Republik bis in das sog. Dritte Reich, was insofern von Belang ist, als das Gesundheitswesen in Preußen aus dem Innenministerium ausgegliedert und mit dem Ministerium für Kirchen- und Konsistorialsachen zusammengelegt worden war und dann wieder dem Innenministerium eingefügt wurde. Welche Konsequenzen sich hieraus für die Formulierung der Ziele der Organisation des Gesundheitswesens beziehungsweise des Apothekensystems in Preußen ergeben, wäre eine interessante Frage, für die der Rahmen der Arbeit zu eng war und die dem Blickwinkel auf ganz Preußen vorbehalten bleiben muß.

Es ist ein Vergnügen für den Leser und gehört zur Lebendigkeit der vorliegenden Studie, wenn die Verfasserin auf die Hygiene- und Sozialgeschichte des militärischen Hafenbauprojekts mit mehreren tausend Arbeitern zu sprechen kommt. Wir erfahren zum Beispiel von der Sittenlosigkeit, den Gefahren der Völlerei und Unzucht in "Kleinamerika", wie die riesige Hafenbaustelle mit ihren primitiven Baracken genannt wurde. Venerische Krankheiten gefährdeten das Projekt, und man setzte auf "Controlldirnen", die der "Winkelhurerei" ein Ende machen sollten.

Monika Awe berichtet auch davon, daß zeitweise 80-90% der Krankheitsfälle unter den Arbeitern durch Malaria verursacht waren. Das täglich einzunehmende Chinin kostete einen ganzen Tageslohn. Die Arbeiter arbeiteten dann nur für ihre Medikation, und Familien waren in großer Bedrängnis. Es ist Teil der Hygienegeschichte und der Epidemiologie, daß ein von Robert Koch eingesetzter Kontrolleur die Anopheles-Mücke in großer Menge ausgerechnet im Keller des Marinelazaretts auffand und wirksame Maßnahmen zur Eindämmung der Seuche ergriff.

Es versteht sich von selbst, daß im Zeitalter der Kolonialisierung fremder Länder diese tropenwissenschaftlichen und seuchenhygienschen Innovationen auch militärisch von größtem Interesse gewesen sind. Die Verbindung von Gesundheitssorge und militaristischem Nationalstaat wird überaus deutlich. So waren die Zeiten des Kriegs und des Kriegsendes wirtschaftlich schwierig für die Apotheken, aber die Zeiten der Aufrüstung brachten den Apothekern Wohlstand.

Die Verfasserin berührt auch das damals schon grassierende Vorurteil vom "immens gut verdienenden Apotheker". Das Bild des Apothekers wandelte sich gerade vom kundigen Handwerker zum Gelehrten und Wissenschaftler. Ziel war die Gleichstellung mit dem Ärztestand.

Monika Awe hat uns ein Tableau an Einzelfallstudien zum Apothekensystem der Untersuchungszeit in die Hand gelegt, die in vielfältiger Weise schlaglichtartig die weiteren historischen Kontexte und die Tatsache beleuchten, daß die fortschreitende Verwissenschaftlichung der Pharmazie vom Zweiten Kaiserreich bis zum Dritten Reich durch militärische Interessen vorangetrieben, zur Staatsräson geworden ist. Aus der Sicht des Allgemeinhistorikers wäre deshalb sogar eine Zusammenfassung in einer historischen Zeitschrift, also außerhalb der Pharmaziegeschichte, wünschenswert.

Die exzellente Dissertation ist mit eindrucksvollen Bildern, Karten und Statistiken ausgestattet. Methodenbewußtsein und die Beherrschung des wissenschaftlichen Apparats machen sie vollends zum Muster einer des höchsten akademischen Grades würdigen Arbeit.

London, Dr. Donatus Prinz von Hohenzollern 
03.11.2025

 

Das Buch:

Monika Awe: Jedermann bei Tage und bei Nacht willig bedienen. Die Entwicklung des Apothekenwesens im Jadegebiet und in Wilhelmshaven/Rüstringen von 1853-1937

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Stuttgart: Deutscher Apotheker Verlag 2014 (Braunschweiger Veröffentlichungen zur Pharmazie- und Wissenschaftsgeschichte hrsg. v. Bettina Wahrig. 53.) 496 S., € 49,00 ISBN: 978-3-7692-6419-7

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