Wissenschaften

Die dreiwöchige Verlängerung des Schreckens

Vor ziemlich genau 80 Jahren rollte das Ende des Zweiten Weltkriegs unaufhaltsam auf das Deutsche Reich zu, und eine Ära des Schreckens für Deutschland, Europa und die ganze Welt sollte bald Geschichte sein. Nach der gescheiterten Ardennenoffensive zum Jahreswechsel 1944/45 waren die Alliierten sowohl im Westen als auch im Osten in der Übermacht und konnten Frankreich, Belgien und darüber hinaus auch zahlreiche Konzentrationslager endgültig befreien. Im März und April 1945 standen die sowjetischen Truppen schließlich vor Berlin, im Westen des Deutschen Reichs konnten Engländer und Amerikaner ihre Truppenverbände zusammenschließen, so dass immer weniger Reichsgebiet unbesetzt war. In Berlin herrschte blankes Chaos, Hitler und andere Feiglinge wussten sich nur noch damit zu behelfen, indem sie den Freitod wählten. Doch war mit Hitlers Tod und selbst der Kapitulation eine gute Woche später der Spuk noch nicht endgültig vorüber, statt dessen zog sich eine Rest-Regierung zurück nach Schleswig-Holstein, um dort noch rund drei Wochen lang scheinbar weiter zu regieren.

Dieser Nachklapp zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs findet in den Geschichtsbüchern zwar meist eine kurze und knappe Erwähnung in Form von ein oder zwei Sätzen, doch ist in der Tat nur wenig bekannt über die letzten Tage des Dritten Reichs unter der Herrschaft von Großadmiral Karl Dönitz. Nach Hitlers Tod gab es ein kurzes und heftiges Kompetenzgerangel, aus dem Dönitz als legitimierter Nachfolger Hitlers hervorging. Da sich auf der Landkarte die weißen Flecken unbesetzten Gebietes immer weiter zusammenzogen und sich schließlich auf die Gegend rund um Flensburg konzentrierten, verlagerten Dönitz und sein Gefolge den Regierungssitz in die Marineschule im Flensburger Stadtteil Mürwik. Der sogenannte Sonderbereich Mürwik überdauerte das Kriegsende bis zum 23. Mai 1945 und war damit drei Wochen lang das letzte Überbleibsel des NS-Staates, ohne allerdings für geschichtlich relevante Handlungen gestanden zu haben.

Gerhard Paul ist der Autor des vor kurzem im Theiss Verlag erschienenen Buchs "Mai 1945 - Das absurde Ende des Dritten Reichs". Auf dem Titelbild prangt einem die Verhaftung von Dönitz, Speer und Jodl im Hinterhof des Flensburger Polizeipräsidiums entgegen. Während Jodl in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen zum Tode verurteilt wurde, entgingen Speer und Dönitz diesem Schicksal und mussten vergleichsweise nur geringe Haftstrafen absitzen. Der Autor des vorliegenden Buches ist ein emeritierter Professor für Geschichtswissenschaften an der Universität Flensburg. Die Nähe seines Arbeitsplatzes zu den Geschehnissen im Mai 1945 prädestinierte ihn natürlich für die Arbeit an diesem Buch. Darüber hinaus gilt Paul als erwiesener Experte für die Geschichte des Nationalsozialismus.

Das Buch ist in mehrere Abschnitte mit Kapiteln eingeteilt. Zu Beginn eines jeden Kapitels steht ein eingängiges Bild, das vom Autor zunächst im Stenogramm-Stil und einer "Management-Zusammenfassung" eingeleitet wird. Anschließend geht er in die Tiefe und beleuchtet die Hintergründe und die Geschichte zum jeweiligen Bild. Dabei richtet Paul neben Aufnahmen von Selbstmördern wie Himmler oder von Kabinettsmitgliedern mit heruntergelassenen Hosen seinen Blick auch auf Geschehnisse abseits der Protagonisten. So ziert beispielsweise eine junge Beate Uhse in Fliegerkluft, damals noch unter ihrem Mädchennamen Köstlin, den Anfang eines Kapitels. Als Flugpilotin schlug sie in jungen Jahren ihre erste Karriere ein, bekanntlich war sie später als Unternehmerin mit Sitz in Flensburg noch weit erfolgreicher.

Zu Beginn des vorliegenden Buchs ist man ein wenig irritiert ob der scheinbaren Zusammenhanglosigkeit der einzelnen Kapitel. Es dauert ein wenig, bis sich die verschiedenen Puzzlestück in der Vorstellung des Lesers zusammenfügen und man beginnt, Spaß zu haben bei der Lektüre dieser geschichtlichen Groteske. Der Autor weist wiederholt daraufhin, dass die historische Relevanz dieser drei Wochen der Dönitz-Regierung äußerst überschaubar war. Doch vermittelt dieses Buch sehr gut das Bewusstsein und die Denke vieler Menschen, Militärs und Machthaber nach zwölf Jahren Nationalsozialismus und sechs Jahren Krieg. Vor allem die erschütternden Berichte über Hinrichtungen wegen Fahnenflucht auch nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 stellen die ganz dunklen Flecken während dieser dreiwöchigen Verlängerung des Dritten Reichs dar. "Mai 1945 - Das absurde Ende des Dritten Reichs" ist eine sehr lesenswerte Ergänzung zur reichlich vorhandenen Literatur über die Geschichte des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs, die viele bis dato unbekannte Aspekte in den Fokus rückt.

Christoph Mahnel 
14.04.2025

 
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Das Buch:

Gerhard Paul: Mai 1945 - Das absurde Ende des Dritten Reichs. Wie und wo die Nazi-Herrschaft wirklich ihr Ende fand

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Freiburg im Breisgau: wbg Theiss Verlag 2025 336 S., € 28,00 ISBN: 978-3-534-61010-5

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