Wissenschaften

Viel Neues aus dem Westen

Während sich dieser Tage der D-Day zum achtzigsten Male jährte und die Erinnerungen von allen Beteiligten hochgehalten wurden, lohnt es sich, einen Blick auf die Ereignisse zurückzuwerfen, die rund vier Jahre zuvor vonstattengingen und die Situation geschaffen hatten, die es mit der Landung in der Normandie zurückzurollen galt. Nach dem Überfall auf Polen im September 1939 war es an der Westfront trotz der Kriegseintritte von Frankreich und Großbritannien zunächst ruhig geblieben, von einem "Sitzkrieg" war gar die Rede. Doch im Mai 1940 überschlugen sich die Ereignisse mit dem Westfeldzug der deutschen Armee, die Belgien, die Niederlande und schließlich Frankreich in Windeseile überrollte und innerhalb von anderthalb Monaten Tatsachen schuf, die den gesamten europäischen Kontinent neu ordneten.

Die bedingungslose Aufgabe der französischen Hauptstadt und der Rückzug der Franzosen manifestierten eine Situation, in der Deutschland seine "Grenzen" bis an den Atlantik verschieben konnte und die Frankreich als ein zerrissenes Land zurückließ. Zu sehr hatten sich die alliierten Westmächte darauf verlassen, dass sich die Geschichte wiederholen und ein Angriff der Deutschen versanden würde wie einst im Ersten Weltkrieg. Doch eine massive Aufrüstung auf deutscher Seite sowie eine Überlegenheit in der taktischen Kriegsführung ermöglichten letztlich diesen relativ einfachen Durchmarsch durch Länder neutraler Staaten sowie der Kriegsgegner. Dieser Westfeldzug setzte die Parameter, an denen sich die Alliierten in den kommenden Jahren abzuarbeiten hatten.

Viel ist über diesen "Blitzkrieg" der Deutschen im Frühling 1940 geschrieben worden. Mit Raffael Scheck hat sich nun ein renommierter Historiker der menschlichen Seite dieser sechseinhalb Wochen gewidmet. Ihm geht es in seinem neuesten Werk "Frühling 1940" weniger um Truppenbewegungen, einzelne Schlachten oder militärische Entscheidungen. Er fokussiert sich auf das Erleben dieser Zeit aus Sicht der Beteiligten. Dazu hat er viele Quellen angezapft und ausgiebig durchforscht. Im vorliegenden Buch lässt er unter anderem belgische Schulkinder, deutsche Hauptmänner, britische Offiziere und französische Schriftsteller zu Wort kommen. Selbst Astrid Lindgren, die sich in ihren Tagebüchern "Die Menschheit hat den Verstand verloren" ausgiebig zu dieser Zeit ausließ, hinterlässt hier mit klugen Äußerungen ihre Spuren.

Seinen Mehrwert zieht "Frühling 1940" vor allem aus den jeweiligen Perspektiven im damaligen Hier und Jetzt. Ex post sind viele Einschätzungen leicht zu treffen und klingen stets plausibel. Doch liefern beispielsweise die Einschätzungen aus Frankreich im Vorfeld des Westfeldzugs interessante Einblicke, da man dort nicht glaubte, dass Hitler eine derartige Offensive im Westen starten würde. Man ging davon aus, dass ihm dies innenpolitisch den Kopf kosten würde. Doch hatte hier die deutsche Propaganda schon den Weg bereitet. Deutlich werden auch die Querelen zwischen Franzosen, Briten und Belgiern, die ein koordiniertes Zusammenspiel erschwerten. Während die Franzosen als inkompetent und antiquiert in Methoden und Ausrüstung gesehen wurden, erschienen die Briten als unmotiviert, die nur wenig Engagement zeigten, französisches Territorium zu verteidigen. Nach der raschen Kapitulation der Belgier bekamen diese schließlich die volle Wucht der Abscheu zu spüren.

Raffael Scheck legt mit seinem Quellenmaterial einen weiteren Schwerpunkt auf den Einsatz kolonialer Einheiten und Soldaten auf französischer Seite. Die sogenannten "Senegalschützen" hatten im französischen Heer wichtige Aufgaben zugeteilt bekommen. Auf deutscher Seite weckten sie übelsten Rassismus, der von der Propaganda ausgeschlachtet wurde, um die Kampfmoral der Truppe zu stärken. Der interessierte Leser wird im vorliegenden Buch des am Colby College in Maine unterrichtenden Historikers viele Stellen entdecken, die das Gesamtbild des Westfeldzugs in ein neues oder zumindest differenziertes Licht rücken. Hilfreich beim Studium des kurzweiligen Materials ist es zudem, dass der Autor im Anhang eine kompakte und alphabetisch sortierte Zusammenstellung der zahlreichen zu Wort kommenden Personen beigefügt hat.

Christoph Mahnel 
01.07.2024

 
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Das Buch:

Raffael Scheck: Frühling 1940. Wie die Menschen in Europa den Westfeldzug erlebten

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Hamburg: Hoffmann und Campe 2024 448 S., € 28,00 ISBN: 978-3-455-01734-2

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