Wissenschaften

Rom - endlich verstanden

Als Rom laut der Sage sieben-fünf-drei schlüpfte aus einem Ei, konnte sicherlich noch niemand ahnen, dass sich aus der Stadt in den Sümpfen des Tiber eine der bedeutendsten Metropolen der Antike entwickeln sollte. Je nachdem, welchen Zeitpunkt man für das Ende Roms heranzieht, kommt man entweder auf gut 12 Jahrhunderte oder sogar auf mehr als zwei Jahrtausende, obgleich für letzteres das Ende Konstantinopels als Ost-Rom herhalten muss. Seine Kern- und Blütezeit erlebte das Römische Reich unzweifelhaft in den drei, vier Jahrhunderten vor sowie nach Christi Geburt, in den Jahren von der Republik hin zum Kaiserreich, das in alle Himmelsrichtungen der damals bekannten Welt expandierte. Neben vielen Dichtern und Denkern sowie großen Staatsmännern basierte die Macht Roms natürlich auf einem Militär- und Verwaltungsapparat, der lange Zeit in der Geschichte der Menschheit seinesgleichen suchen sollte.

Die gewaltige Größe und Macht Roms selbst aus der Gegenwart heraus zu verstehen, ist äußerst herausfordernd. Mit "Rom verstehen" haben John Scheid, ein emeritierter französischer Historiker, und sein Landsmann, der Illustrator Nicolas Guillerat, den Versuch unternommen, diese Herausforderung zu meistern. Kern dieses Buches sind unzählige Karten, Zeitachsen, Diagramme oder sonstige geeignete Darstellungsformen, in denen ein bestimmtes Thema grafisch aufbereitet wird, um Zusammenhänge, Größenordnungen oder zeitliche Entwicklungen visuell nachvollziehen zu können. Begleittexte runden die Grafiken jeweils ab. Aber da ein Bild bekanntlich mehr als tausend Worte sagt, fokussiert sich das menschliche Auge sogleich auf die mehr als gelungenen Darstellungen.

Zwar steckt mit John Scheid ein gewaltiges Pfund an Rom-Expertise hinter diesem Buch, doch brilliert in "Rom verstehen" vor allem Nicolas Guillerat als der Mann, der die historischen Informationen leicht verständlich aufbereitet hat. Der Grafikdesigner entpuppt sich als wahres Visualisierungsgenie, der schon bei ähnlichen Unterfangen sein Können unter Beweis gestellt hat, wie in dem ebenfalls beim dtv vor drei Jahren erschienenen Buch "Den Zweiten Weltkrieg verstehen: 1939 - 1945 in Infografiken". Doch bevor Guillerat im vorliegenden Buch damit glänzen konnte, wie bestimmte Sachverhalte und verschiedene Dimensionen am besten in Szene gesetzt werden können, bedurfte es eines gewaltigen Abstraktionsvermögens auf Seiten des Historikers. John Scheid musste sich bestimmte Leitlinien setzen, um dem schieren Chaos und der Detailflut der römischen Geschichte Herr zu werden.

Der Autor hat aufgrund unklarer Quellenlagen die ganz frühen Jahre Roms beiseitegelegt, da vor dem fünften vorchristlichen Jahrhundert die Informationssituation doch recht dürftig war. Aber auch nach dem vierten Jahrhundert nach Christus und dem einsetzenden Niedergang Westroms beginnt die Geschichtsschreibung unzuverlässig zu werden, so dass "Rom verstehen" einen klaren Schwerpunkt auf die bereits erwähnte Kern- und Blütezeit gesetzt hat. Das vorliegende Buch ist in drei Teile gegliedert: Im ersten widmen sich Scheid und Guillerat "Gebiet und Bevölkerung des Römischen Reichs". Hier erhält der begeisterte Leser sowohl einen Blick in die "urbs", beispielsweise in die geographische Aufteilung der Stadt Rom, als auch ein Gefühl für die scheinbar unendliche "orbis", die Scheibe mit der bewohnten Welt. Gerade die Dimensionen der römischen Expansion werden graphisch so aufbereitet, dass man an dieser Stelle gefühlt ewig verweilen möchte, da die gewaltige Graphik so viele Informationen bereithält, die man nicht alle auf den ersten Blick zu umfassen vermag. Weitere Themen in diesem Abschnitt beschäftigen sich schließlich mit der römischen Gesellschaft und dem Volk Roms.

Der Mittelteil trägt die Überschrift "Verwaltung, Verehrung, Versorgung" und beschäftigt sich mit dem komplexen Apparat der römischen Verwaltung, sprich den Verfassungsorganen sowie dem Zusammenspiel der einzelnen Gremien während Republik und Kaiserzeit. Die komplexen Familienstrukturen der einzelnen Kaiserdynastien sind gut durchdringbar aufbereitet, auch die Entwicklung der Religionen im Laufe der Jahrhunderte sowie einige wirtschaftliche Themen. Den Höhepunkt bildet sicherlich der abschließende dritte Teil, der "Die römische Militärmacht" im umfassendsten Abschnitt behandelt. Zuvorderst werden organisatorische Strukturen im römischen Mittelapparat, beispielsweise die Zusammensetzung einer Legion, beleuchtet, bevor die bekanntesten Feldzüge und Kriege Roms illustriert werden und zum Verweilen einladen. Punische und gallische Kriege mit einer Unmenge an Informationen sind komprimiert auf jeweils einer Doppelseite dargestellt. Dies sind die i-Tüpfelchen auf ein brillantes Werk, das wie ein Kompendium an "National Geographic"-Postern für die römische Geschichte daherkommt. Wer ein Faible für die Antike und diese Periode besitzt, wird viele Schmökerstunden mit dem Werk von John Scheid und Nicolas Guillerat verbringen.

Christoph Mahnel 
18.07.2022

 
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Das Buch:

John Scheid, Nicolas Guillerat: Rom verstehen - Das Römische Reich in Infografiken. Aus dem Französischen von Martin Bayer

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München: dtv 2022 128 S., € 26,00 ISBN: 978-3-423-29007-4

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