Wissenschaften

Über den Umgang mit Störgeräuschen

Im Informationszeitalter ist die Entscheidungsfähigkeit sicherlich zu einer der Königsdisziplinen des Homo Sapiens aufgestiegen. Aufgrund von unzähligen Informationen, Argumenten und eigenen Erfahrungen sind gepaart mit dem nicht zu unterschätzenden Bauchgefühl in kürzester Zeit Entscheidungen zu treffen, und zwar am besten auch noch die richtigen. Dies gilt in besonderem Maße für Menschen, deren Wirkungskreis sich rund um das Wohl und Wehe anderer Menschen erstreckt, wie beispielsweise Ärzte oder Richter. Doch auch im privaten und im beruflichen Bereich eines jeden einzelnen Menschen werden ständig Entscheidungen verlangt, zu jeder Tages- und Nachtzeit, in unterschiedlichen Gemütszuständen. Dass persönliche Umstände einen Einfluss auf die Entscheidungen haben können, wird niemand bestreiten, doch wird man für sich herausnehmen wollen, dass man sehr wohl in der Lage ist, diese weitestgehend ausklammern zu können. Doch weit gefehlt!

Daniel Kahneman ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Kognitionspsychologie, dem Teilgebiet der Psychologie, das sich mit den menschlichen Erkenntnisabläufen beschäftigt, den Prozessen, die mit der Reizaufnahme beginnen und über das Erleben schließlich in ein Verhalten münden. Kahneman wurde 1934 in Tel Aviv geboren und gelangte nach einer Odyssee während des Zweiten Weltkrieges schließlich nach Palästina. Nach dem Studium der Mathematik und Psychologie in Jerusalem führte ihn sein Weg in die USA, wo er promovierte. Als Professor lehrte er auf verschiedenen Kontinenten, bis heute zählt er weltweit zu den bedeutendsten Vertretern seines Fachs. Insbesondere seine Forschungen zu systematischen und unbewussten fehlerhaften Neigungen ließen diesen Ruhm gedeihen.

Einer breiten Masse bekannt wurde er durch seinen Bestseller "Schnelles Denken, langsames Denken" vor rund zehn Jahren, ein Buch, das durchaus als Kompendium des gesamten Forschungsstandes der Kognitionspsychologie bezeichnet werden darf. Sein Modell zweier unterschiedlicher Denk-Systeme des Menschen hat sicherlich jeden seiner Leser begeistert und nachhaltig beeindruckt. Dieses Buch ist zu einem wahren Longseller geworden, der seinen Lesern einiges abverlangt. Behutsam und kapitelweise hangelt man sich durch dieses Buch, da man stets die in einem Kapitel gewonnenen Erkenntnisse verarbeiten und setzen lassen muss. Die Ankündigung, dass Kahneman mit einem neuen Buch aufwartet, sorgte natürlich für eine große Vorfreude bei vielen Hobby-Psychologen.

"Noise" lautet der Titel dieses neuen Werks, gleichermaßen im englischsprachigen Original wie auch in der deutschen Übersetzung. Zusammen mit den beiden Co-Autoren Olivier Sibony, einem langjährigen McKinsey-Direktor aus Frankreich, und Cass R. Sunstein, einem amerikanischen Professor für Recht und Berater der US-Regierung, hat Kahneman die Corona-Zeit blendend genutzt und ist den nächsten Schritt nach "Schnelles Denken, langsames Denken" gegangen. Im Mittelpunkt des vorliegenden Buches steht der sogenannte "Noise", ein Rauschen, das auf zufällige Art und Weise die Entscheidungen von Menschen beeinflusst, ohne dass dieser dies bemerkt oder es sich eingestehen möchte. Mal ist es die Tageszeit, die Einfluss nimmt, mal ist es das Spiel des Lieblingsfußballvereins vom letzten Wochenende, und dies selbst bei Experten, die ein umfangreiches Arsenal an Hintergrundinformationen besitzen, das eigentlich und ausschließlich die Entscheidung beeinflussen sollte.

Mit Hilfe sehr vieler Beispiele legt das Autoren-Trio gut nachvollziehbar dar, dass "Noise" überall ist, die daraus entstehenden Fehler erratisch sind und kein Trend zu erkennen ist. Ihr Hauptaugenmerk legen Kahneman und Co. daher auf die Vermeidung von "Noise". Viele Bezüge zur Wirtschaft, wo "Noise" einen unermesslichen finanziellen Schaden verursacht, werden hergestellt. Dennoch kommt das vorliegende Buch gleichermaßen praktisch wie auch wissenschaftlich daher, da die verwendeten Begriffe sauber abgegrenzt und Aussagen tadellos belegt werden. "Noise" ist nach "Schnelles Denken, langsames Denken" ein weiteres Buch aus der Feder eines knapp neunzigjährigen Mannes, an dem man als Normalsterblicher eine ganze Weile seinen Spaß haben wird, seinen Horizont erweitert und für sein eigenes Leben gute Anweisungen an die Hand bekommt, wie Fehler in der Entscheidungsfindung vermieden werden können.

Christoph Mahnel 
19.04.2022

 
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Das Buch:

Daniel Kahneman, Olivier Sibony, Cass R. Sunstein: Noise. Was unsere Entscheidungen verzerrt - und wie wir sie verbessern können. Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt

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München: Siedler Verlag 2021 480 S., € 30,00 ISBN: 978-3-8275-0123-3

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