Hörbücher

Erlebte Geschichte

Zweifellos ist das zwanzigste Jahrhundert derjenige Hundertjahresabschnitt in der Geschichte der Menschheit, in dem der größte und schnellste Fortschritt stattgefunden hat. Bildeten zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts noch Droschken das Straßenbild, sind hundert Jahre später Land- und Luftwege mit Gebilden überzogen, die kaum ein Zukunftsforscher in dieser Ausgereiftheit hätte vorhersehen können. Doch sind im zivilisierten Abendland auch enorme Veränderungen vonstattengegangen, die traditionelle Familienbilder und das Verhältnis von Männern und Frauen, von Mädchen und Jungen sowie von Söhnen und Töchtern komplett über den Haufen geworfen haben. Die Emanzipation der Frau, ja beinahe schon die Menschwerdung der Frau ist sicherlich eine der größten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts.

Um das vergangene Jahrhundert besser zu verstehen, hat sich Lerke von Saalfeld in den letzten drei Jahrzehnten mit vielen interessanten Frauen zusammengesetzt und diese interviewt. Ganz grundsätzlich scheint es die Intention der promovierten Literaturwissenschaftlerin gewesen zu sein, dadurch die hervorstechendsten Entwicklungen dieser Epoche verständlich und exemplarisch greifbar zu machen. Im Hörverlag ist nun ein Kompendium dieser Interview-Reihe erschienen: "Wir waren voller Hoffnung" lautet der Titel einer 25 CDs umfassenden Hörbuch-Box mit Interviews von 25 verschiedenen Frauen. Eine CD ist dabei konsequent einem Interview gewidmet und umfasst durchschnittlich etwa eine knappe Dreiviertelstunde. Herausgekommen ist eine mächtige Pappschachtel, die man gut und gerne auch kompakter hätte halten können, wenn man auf mp3-CDs gesetzt hätte. Doch Ehre, wem Ehre gebührt, die befragten Damen Kompressionsraten auszusetzen, wäre angesichts ihrer Lebenserfahrungen auch höchst verwerflich gewesen.

Der Reigen der interviewten Damen erstreckt sich von solchen, die noch im Kaiserreich geboren und aufgewachsen waren, bis hin zu solchen, denen die Gnade einer recht späten Geburt in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs beschieden war. Denn waren die Erlebnisse derjenigen, die beide Weltkriege durchleben, sich dabei auf die Flucht begeben mussten oder gar in Konzentrationslagern inhaftiert waren, sicherlich ungleich strapaziöser. Die Autorin hat bei ihrer Auswahl darauf geachtet, Frauen zur Rede zu stellen, deren Lebensberichte eigentlich für mehrere Leben ausgereicht hätten, dabei aber auch keinen expliziten prominenten Persönlichkeiten das Mikrofon unter die Nase zu halten. Unter den 25 Auserwählten sind die kürzlich verstorbene Schriftstellerin Ilse Aichinger und Wibke Bruhns, die erste Nachrichtensprecherin im deutschen Fernsehen, sicherlich die bekanntesten Erscheinungen.

In der Regel handelt es sich bei den Befragten durchweg um privilegierte Frauen, die aufgrund ihrer Herkunft zweifelsohne einen gewissen Startvorteil gegenüber anderen Mädchen und Frauen ihrer Zeit hatten. Doch zeigt sich bereits nach einigen CDs, dass jede der Frauen ihr Frausein anders interpretiert und ausgestaltet hat. Auffällig ist die Häufung von Exilantinnen, die Deutschland für eine bestimmte Zeit verlassen haben und aufgrund dieser Erfahrungen sehr gut in der Lage sind, Vergleiche zwischen ihrer Heimat und Hongkong, China, Namibia, Kenia, den Vereinigten Staaten oder anderen Ländern des Erdballs ziehen zu können. Auch trifft man im Laufe der Box ganz unterschiedliche emotionale Charaktere an. Da gibt es auf der einen Seite die demütige Frau, die versuchte, im Hintergrund zu agieren und von dort aus ihre Vorstellung von Menschlichkeit zu realisieren, auf der anderen Seite aber auch diejenigen, die mit dem Kopf durch die Wand wollten und dabei eher mehr als minder erfolgreich waren.

Die Autorin hat es bei den Befragungen hervorragend verstanden, ihre Eingriffe zum einen wohl zu dosieren, um dem Redefluss der Befragten freien Lauf zu lassen, zum anderen aber mit ihren Fragen und Anmerkungen die Befragte geschickt auf die interessanten Themenfelder zu lenken. Als Hörer weiß man darüber hinaus das ausführliche Booklet zu schätzen, in dem auf jeweils zwei Seiten die Vita einer jeder Dame niedergeschrieben ist. Während Booklets für gewöhnlich nettes optionales Begleitmaterial zum Hörbuch darstellen, ist es im vorliegenden Fall durchaus empfehlenswert, sich während einer jeden CD im Booklet über den Lebensweg der Protagonistinnen zu informieren. Lerke von Saalfeld fokussiert sich mit ihren Interviewgästen nämlich nicht auf chronologisch lückenlose Abrisse deren Vitae, sondern konzentriert sich auf Stimmungen, Empfindungen und exemplarische Vorfälle, von denen der Hörer wunderbar zehren kann. Man ist nach über 18 Stunden erstaunt darüber, welche Interviewfragmente hängengeblieben sind und einen nachhaltig beschäftigen. Diese "Takeaways" fallen garantiert bei jedem unterschiedlich aus, was "Wir waren voller Hoffnung" zu einem höchst empfehlenswerten Hörfundus an Lebenserfahrungen und -weisheiten macht.

Christoph Mahnel
19.12.2016

 
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Das Buch:

Lerke von Saalfeld: "Wir waren voller Hoffnung" - Zeitzeuginnen des 20. Jahrhunderts im Gespräch

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Sprecher: Lerke von Saalfeld, Ilse Aichinger, Wibke Bruhns u.v.a.
München: Der Hörverlag 2016
Spielzeit: 1093 Min., € 49,90
ISBN 978-3-844-52333-1

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