Hörbücher

Wie Stimmen aus der Gruft

Vor ziemlich genau siebzig Jahren begann ein halbes Jahr nach Kriegsende mit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen die große und systematische Aufarbeitung der NS-Gräueltaten. Schon in der Vorbereitung dieser Prozesse durch die Alliierten, aber auch in der historischen Nachbetrachtung sind die Vorgänge in Nürnberg bis zum heutigen Tage umstritten. Auf der einen Seite wurden sie als willkürliche Siegerjustiz wahrgenommen, während andere die Nürnberger Tage als ersten wegweisenden Schritt hin zum einem Internationalen Strafgerichtshof feierten. Wie so oft liegt die tatsächliche Wahrheit irgendwo in der Mitte. Letztlich muss man den Alliierten uneingeschränkt zugutehalten, dass sie sich an eine Herkulesaufgabe heranwagten, die dem Ausmisten eines Augiasstalls in nichts nachstand.

Der Audio Verlag erinnert zur siebzigsten Jährung der Ereignisse in der Frankenmetropole gleich mit zwei Produktionen. Zum einen wäre da die Hördokumentation "Im Namen des Volkes" von Jochanan Shelliem, die auf drei CDs hinter die Kulissen des Nürnberger Prozesses blickt, zum anderen bietet die von Ulrich Lampen herausgegebene Kollektion "Die NS-Führung im Verhör" dem Hörer Originaltondokumente aus den Nürnberger Prozessen. Acht Angeklagte bzw. Zeugen kommen dabei auf insgesamt acht CDs zu Wort. Bei der erfolgten Auswahl wurde konsequent darauf geachtet, eine möglichst breite Palette von Themen abzudecken.

Wenn der Hörer diesen historischen Tondokumenten lauscht, dann fokussiert er sich sogleich auf zwei Beobachtungen. Neben den inhaltlichen Erörterungen über Fragen zu Wirtschaft, Wehrmacht oder Justiz bewertet er natürlich das Verhalten der auf der Anklagebank oder im Zeugenstand befindlichen Befragten. Diese Beobachtungen machen den Reiz der Zusammenstellung Ulrich Lampens aus, wenn einem bewusst wird, wie abgrundtief der moralische Boden Hermann Görings gewesen sein muss, wie feige Wilhelm Keitel, immerhin Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, sich darauf berief, immer nur Hitlers Befehle entgegengenommen und kaum eigene Anweisungen erteilt zu haben oder wie unwissend sich Walther Funk bezüglich Vorgängen stellt, die ihm als Wirtschaftsminister keineswegs entgangen sein konnten.

Neben den erwähnten Göring, Keitel und Funk widmet Lampen mit Fritz Sauckel noch einem vierten Angeklagten aus dem Hauptkriegsverbrecherprozess eine seiner acht CDs. Darüber hinaus werden mit Schlegelberger, Paulus, Gebhardt und Wisliceny Männer gehört, die entweder als Zeugen im "großen" Prozess oder als Angeklagte in einem der zahlreichen Nebenprozesse vernommen worden waren. Die einzelnen CDs werden jeweils mit einem Vorwort von Peter Steinbach zum betreffenden Thema eingeleitet, hernach verbleibt pro Person etwa eine Dreiviertelstunde Verhörzeit. Sicherlich hätte den Tondokumenten noch erheblich mehr Zeit gewidmet werden können, das schaurige Erleben der Vergangenheit nimmt der Hörer allerdings unzweifelhaft wahr, so dass einem die Beiträge von Göring und anderen Schurken wie Stimmen aus der Gruft erscheinen.

Während Lampens Produktion auf die Kraft der Originalquellen setzt, hat der in Haifa geborene Hörfunk-Journalist Jochanan Shelliem für sein Vorhaben einen vielfältigen Blick rund um die Ereignisse in Nürnberg geworfen. Als Hörfeature angelegt, nimmt er den Hörer mit auf eine Reise, die zeigt, welche Anstrengungen unternommen wurden, diese Kriegsverbrecherprozesse zu ermöglichen. Das Ganze wird mit intimen Innenansichten aus dem Prozessverlauf garniert: In einem Mix aus zitierten Originaltexten und O-Ton-Einspielungen hat Shelliem seinen Fokus neben der BBC-Kriegsberichterstatterin Erika Mann, der Tochter Thomas Manns, auf Richard W. Sonnenfeldt, einen in Deutschland geborenen Juden und Chefdolmetscher der amerikanischen Anklage, sowie Dr. Ludwig Plücker, den Nürnberger Gefängnisarzt, gerichtet.

Für eine intensive Beschäftigung mit diesem historischen Ereignis bietet die Kombination aus den beiden Hörbuch-Produktionen des Audio Verlags eine ideale Möglichkeit, die zwar zu dauerhaftem Kopfschütteln verleiten mag, aber die Bedeutung der damaligen Vorgänge sowie die Absurdität vieler inhaltlicher Aussagen sehr gut herausarbeitet. Empfehlenswert ist dabei, zunächst mit Jochanan Shelliems Dokumentation eine umfängliche Basis-Betrachtung vorzunehmen, um dann mit den Verhören im O-Ton tiefer in die einzelnen Themen und Charaktere einzutauchen. Aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts stellt sich einem zwangsläufig die Frage, wie ein derartiger Kriegsverbrecherprozess heutzutage medial ausgeschlachtet worden wäre. Dagegen schätzt man sich bereits glücklich, über die Ereignisse in den Jahren 1945/46 dank der beiden vorliegenden Produktionen Audiofragmente zu besitzen.

Christoph Mahnel
26.11.2015

 
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Das Buch:

Jochanan Shelliem: Im Namen des Volkes - Hinter den Kulissen des Nürnberger Prozesses

CMS_IMGTITLE[1]

Sprecher: Erika Mann, Richard W. Sonnenfeldt u.v.a.
Berlin: DAV 2015
Spieldauer: 160 Min., € 19,99
ISBN: 978-3-862-31644-1

Diesen Titel

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Ulrich Lampen (Hg.): Die NS-F?hrung im Verh?r. Originaltondokumente der N?rnberger Prozesse

CMS_IMGTITLE[4]

Sprecher: Peter Steinbach Berlin: DAV 2015 Spieldauer: 440 Min., ? 17,99 ISBN: 978-3-862-31614-4

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