Hörbücher

Die Mutter aller Campus-Romane

Der verwitwete Gymnasiallehrer Raat wird in seiner Stadt und insbesondere von seinen Schülern stets mit seinem Spitznamen gerufen: "Unrat". Raat, der von seinen Schülern Respekt, Gehorsam, Fleiß und Disziplin verlangt, empfindet diese Verballhornung seines Namens als tätlichen Angriff. An seiner Schule führt er daher regelrechte Feldzüge gegen diejenigen Schüler, die nicht seinem Idealbild entsprechen und keine Gelegenheit auslassen, Raat verbal zu verunglimpfen. Vor allem hat er dabei die drei Schüler Kiesellack, Ertzum und Lohmann auf dem Kieker, letzteren auch deswegen, weil er Raat eben nicht mit dessen Spitznamen anredet, was dieser als noch viel größere Respektlosigkeit empfindet.

Eines Tages findet Raat in Lohmanns Schulheft ein von diesem verfasstes Gedicht an die Künstlerin Rosa Fröhlich. Um Lohmann endlich zu Fall bringen zu können, begibt sich der Lehrer in die Stadt und versucht, die Künstlerin ausfindig zu machen. Im Lokal "Der blaue Engel" ist Rosa Fröhlich der gefeierte Star und die Begierde aller männlichen Besucher. So kommt es, wie es kommen musste: Raat passt die Künstlerin ab und hält ihr eine moralische Standpauke, doch kann auch er dem Vamp nicht widerstehen. Er verfällt ihr zunehmend mit Haut und Haaren, so dass sein Weltbild ins Wanken gerät. Raat verliert nicht nur den moralischen Halt in seinem Leben, sondern auch seine Anstellung als Lehrer sowie schlussendlich sein Hab und Gut, während seine Schüler erfolgreich ihren Weg gehen.

Heinrich Manns Roman "Professor Unrat" datiert aus dem Jahre 1904, besitzt jedoch trotz Staubs auf dem Buchdeckel eine gewisse Aktualität. Ein wenig überspitzt ließe er sich als erster Campus-Roman der Literaturgeschichte bezeichnen. Ungleich erfolgreicher und bekannter war jedoch die Verfilmung "Professor Unrats" aus dem Jahre 1930. Emil Jannings und Marlene Dietrich brillierten in ihren Rollen, so dass "Der blaue Engel" zu einem der erfolgreichsten Streifen der deutschen Filmgeschichte wurde. In Heinrich Manns Bibliografie nimmt "Professor Unrat" zeitlich einen sehr frühen Platz ein. Der ältere Bruder Thomas Manns schrieb diesen nämlich bereits im Alter von 33 Jahren, während er viele seiner bekannten Werke erst viel später im französischen und amerikanischen Exil verfasste.

Die vorliegende Hörbuchausgabe des Hörverlags ist die Neuauflage einer ungekürzten Lesung durch Manfred Steffen aus dem Jahre 1982. Der 2009 verstorbene Schauspieler liest fast acht Stunden lang den Klassiker Heinrich Manns und überzeugt dabei mit seiner unverwechselbaren Stimme, die er für die verschiedenen Charaktere unterschiedlich ausprägt. Sehr sympathisch kommt die über dreißig Jahre alte Aufzeichnung des Norddeutschen Rundfunks daher, wenn man zwischendurch immer wieder einmal ein Umblättern von Buchseiten im Hintergrund vernimmt. Bei modernen Produktionen wird man vergeblich auf einen solchen Lapsus warten. Nach der Neuauflage von "Der Untertan" im vergangenen Jahr hat der Hörverlag nun bereits den zweiten Klassiker Heinrich Manns geschmackvoll aufgebrezelt.

Die für das heutige Ohr an der einen oder anderen Stelle doch leicht antiquiert klingende Sprache Heinrich Manns fordert den Hörer heraus und verlangt von ihm höchste Aufmerksamkeit. Anders als bei aktuellen Produktionen gibt es bei Mann keine Redundanzen oder sich wiederholende Erläuterungen, die einem ein gedankliches Dahinschweifen erlauben würden. So mancher Hörer wird beim Konsum des vorliegenden Hörbuchs sein persönliches Déjà-vu-Erlebnis haben, wenn er sich nämlich – mutmaßlich mit Schrecken – an die Schulzeit erinnern wird, wo er einst Heinrich Manns "Professor Unrat" rauf und runter interpretieren musste. Dies thematisiert auch der Aufsatz "Verliebt, gehörnt, gerächt, gefallen" des Schriftstellers Gregor Hens, der im beiliegenden Booklet abgedruckt ist und ein gelungenes Produkt perfekt abrundet.

Christoph Mahnel
01.06.2015

 
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Das Buch:

Heinrich Mann: Professor Unrat

Sprecher: Manfred Steffen
Der Hörverlag, München, April 2015
Spieldauer: 462 Min., 22,99 Euro
ISBN: 978-3-844-51173-4

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