Hörbücher

Das „Zehntagewerk“ auf zehn CDs

Florenz im Sommer 1348. Die Pest wütet innerhalb der Mauern der toskanischen Stadt. An einem Dienstag treffen sich zufällig sieben Frauen und drei Männer in der Kirche Santa Maria Novelli und beschließen, für einige Zeit der Stadt und damit auch der Pest zu entfliehen. Die jungen Edelleute ziehen sich auf ein Landgut außerhalb der Stadt zurück und vertreiben sich mit Geschichtenerzählen die Zeit. Zehn Tage lang erzählt jeder der zehn Versammelten eine Geschichte, die zum Thema des Tages passt. Das Thema wird immer von der "Königin" bzw. dem "König" festgelegt, die oder der jeden Tag neu bestimmt wird.

Die Geschichten, die die Florentiner Adligen sich in ihrer selbstgewählten "Quarantäne" gegenseitig erzählen, durchziehen alle Schichten der Gesellschaft - vom einfachen Bauern über den listigen Kaufmann bis zum nicht immer ganz so frommen Mönch - und alle Erzählformen der Literatur - von der Satire über die Parabel bis zum Schwank. Dabei hat sich Boccaccio den Großteil des Stoffes der insgesamt 100 Novellen des "Dekameron" (griech. deka = zehn, hemera = Tag) nicht von Grund auf neu ausgedacht; er hat Stoffe der antiken Literatur entlehnt und sich u.a. arabischer, indischer, persischer oder auch altfranzösicher Quellen bedient. Dabei hat er diese Erzählungen und Legenden in prosaische Form gebracht und ihnen eine Rahmenhandlung - die der Pest entflohenen Edelleute auf dem Landgut - gegeben.

So wie sich Boccaccio an antiken Quellen bedient hat, haben bedeutende Schriftsteller nach ihm seine Erzählungen in ihre Werke eingebaut. Zu nennen sind hier keine geringeren als William Shakespeare, Geoffrey Chaucer oder Miguel de Cervantes. Als berühmtester deutscher Vertreter, der sich eine Geschichte aus dem "Dekameron" herausgepickt und in seinem Werk verwendet hat, ist Gotthold Ephraim Lessing zu nennen, dessen Ringparabal in seinem dramatischen Gedicht "Nathan der Weise" bei Boccaccio bereits am ersten Tag als dritte Novelle von einer der Damen erzählt wird.

Auch wenn Boccaccio, dessen 700. Geburtstag 2013 gefeiert wurde, alle Gesellschaftsschichten des 14. Jahrhunderts in seiner Novellensammlung porträtiert, so ist es doch vor allem der Klerus, den er in keinem guten Licht dastehen lässt und der vor allem unter der derben Komik Boccaccios zu leiden hat. Viele der 100 Novellen, von denen 46 auf den zehn CDs dieses Hörbuchs zu finden sind, bewegen sich inhaltlich auf dem Gebiet der Obszönität und Unsittlichkeit und nicht selten sind Geistliche die Hauptpersonen in diesen Erzählungen. Da vergnügen sich z.B. Mönch und Abt mit ein und demselben Bauernmädchen in der Zelle des Mönchs, oder die Nonnen eines Klosters nehmen einen gut aussehenden und tüchtigen jungen Mann bei sich auf, damit sie sich reihum seiner Manneskraft bedienen können. Nicht verwunderlich ist es deshalb, dass das "Dekameron" damals auf den Index kam und von der christlichen Welt als unsittlich und verdorben abgetan wurde. Den Index und viele Jahrhunderte hat das "Zehntagewerk" Boccaccios jedoch überstanden und gilt heutzutage als das Werk, mit dem die prosaische Erzähltradition in Europa begründet wurde.

Im Jahre 1984 produzierte der NDR eine Rundfunkserie in 25 Folgen mit hochdekorierten Sprechern und Schauspielern, wie u.a. Gert Westphal, Uwe Friedrichsen, Christian Rode oder Maria Körber. Die elf Sprecher - die zehn Charaktere und der Erzähler der Rahmenhandlung - lassen die fast zwölf Stunden wie ein Hörspiel, ja fast Theaterstück erscheinen, da man sich als Hörer als zur Szenerie gehörig fühlt und wie der elfte Florentiner Adlige mit den anderen gemütlich zusammensitzt, lacht, beschämt auf den Boden schaut oder mit den Unglücksraben in den Geschichten mitfühlt. Die Hörspiel-Produktion, die bisher noch nie auf Tonträgern erschienen war, hat es definitiv verdient, aus den Archiven des NDR hervorgeholt und der Hörerschaft zugänglich gemacht zu werden.

Sabine Mahnel
06.01.2014

 
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Das Buch:

Giovanni Boccaccio: Das Decamerone. Aus dem Italienischen von Karl Witte

Sprecher: Gert Westphal, Uwe Friedrichsen, Ernst-August Schepmann u.v.a.
München: Der Hörverlag 2013
Spielzeit: 707 Min., € 39,99
ISBN: 978-3-8445-1172-7

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