Hörbücher
Der Scherenschleifer zieht wieder übers Land
Die Merbolds sind eine junge dreiköpfige Familie, die sich just ihren Traum vom Eigenheim erfüllt hat. Südlich von Hamburg, am Rande der Lüneburger Heide, liegt Althausen, ein kleines verschlafenes Örtchen, mit dem Sasslinger Hof. Seit Jahren steht er zum Verkauf. Nun werden ihn Tom, Kristin und die kleine Lisa bewohnen. Doch vom ersten Tag an verspürt Kristin ein leichtes Frösteln, das vom Keller ihres neuen Zuhauses heraufzuziehen scheint. Zusammen jedoch nimmt die junge Familie die Umbaumaßnahmen in Angriff und erfreut sich an ihrem neuen Zuhause. Der gemeinsame Weg der Merbolds wird jedoch sehr bald ein abruptes Ende finden.
Tom wird bei einem Besuch seiner Hausbank in Hamburg von einem Bankräuber erschossen. Kristin befindet sich in einer Schockstarre, aus der sie auch ihre Mutter nicht zu wecken vermag. Iris empfiehlt ihrer Tochter, das Haus nach dem Tod Toms aufzugeben und wegzuziehen. Kurze Zeit später nimmt das Grauen für Iris, Kristin und Lisa seinen Lauf. Wie auch Kristin vernimmt ihre Mutter Stimmen aus dem Keller und immer wieder einen Vers, wie ihn früher die Scherenschleifer, als sie über die Lande zogen, um den Menschen ihre Messer und Scheren zu schleifen, von sich gaben.
Ein paralleler Handlungsstrang beschäftigt sich mit dem Kleinganoven Robert, dessen Bruder Eric derjenige Bankräuber war, der Tom auf dem Gewissen hat. Zusammen mit einem Bekannten versucht Robert die Beute aus dem Überfall, bei dem Eric ebenfalls getötet wurde, dessen Komplizen zu entreißen. Doch ist Robert beileibe kein schlechter Mensch und empfindet ein Verantwortungsgefühl für Kristin, die sein Bruder zur Witwe gemacht hat. Diese Einstellung befeuert schließlich die gruseligen Vorgänge am Sasslinger Hof mit realen Personen und damit dem wahren Schrecken.
"Der Gesang des Blutes" ist die neueste Veröffentlichung des deutschen Thrillerautors Andreas Winkelmann. Doch ist es beileibe nicht sein neuestes Werk. Bereits im Jahre 2007 hatte Winkelmann "Der Gesang des Scherenschleifers" veröffentlicht. "Der Gesang des Blutes" ist die Neuauflage dieses lange vergriffenen und über sechs Jahre alten Frühwerks Winkelmanns. Grundlegende Änderungen scheint es im Zuge des Neudrucks nicht erfahren zu haben, sieht man einmal davon ab, dass der früh dahinscheidende Familienvater nicht Tom, sondern Mike hieß.
Derartige Neuauflagen früherer Werke beobachtet man oft bei Autoren, die mit einem Buch von Null auf Hundert durchgestartet sind und für die man dann ihre früheren Werke neu auflegt, um das Verlangen der Fans auch über die Schaffenspausen der Autoren hinweg zu stillen. Jussi Adler-Olsen oder Simon Beckett waren in den vergangenen Jahren die vielleicht prominentesten Beispiele für ein solches Vorgehen.
Das vorliegende Hörbuch ist eine autorisierte Lesefassung der gut 300 Seiten starken Buchausgabe. Der bekannte Hörbuchsprecher Simon Jäger liest über siebeneinhalb Stunden lang und begleitet mit seiner kompromisslosen Stimme den Hörer durch die schaurigen Vorgänge in Althausen. Winkelmann hat mit der Verlagerung des Showdowns in eine intensive Winteratmosphäre eine Konstellation der Abgeschiedenheit geschaffen, wie sie sich schon viele große Schriftsteller vor ihm zu Eigen gemacht haben. Man denke nur an Agatha Christies Klassiker "Die Mausefalle", bei dem die Protagonisten wie auch in Althausen auf sich alleine gestellt sind und nicht auf Hilfe von außerhalb zu hoffen brauchen.
Alles in allem merkt man bei "Der Gesang des Blutes", dass sich Andreas Winkelmann in den letzten Jahren weiterentwickelt hat. Die grundlegende Idee mit einem alten Haus, das Schauplatz schrecklicher Ereignisse und familiärer Dramen war, im Zusammenhang mit der Figur des düsteren Scherenschleifers ist durchaus gelungen. In der Umsetzung jedoch merkt man, dass die Ausgestaltung einer guten Idee und entsprechender Figuren nicht unbedingt jedem Schriftsteller mit in die Wiege gelegt wird, sondern dass mancher Autor dies erst im Laufe seiner Karriere erlernt und zur Meisterschaft bringt.
Winkelmann hat sich mittlerweile dank seiner Werke wie "Wassermanns Zorn", "Höllental" oder "Bleicher Tod" in die erste Liga deutscher Thrillerautoren katapultiert. Zum Zeitpunkt, als er "Der Gesang des Scherenschleifers" schrieb, war er jedoch erst auf dem Weg dahin.
Christoph Mahnel
11.11.2013