Hörbücher

Realität und Fiktion auf der "Kö"

August 1954: Im Düsseldorfer Nobelhotel "Breidenbacher Hof" auf der Königsallee, kurz "Kö", hat sich berühmter Besuch angekündigt. Thomas Mann ist für eine Lesung aus seinem "Felix Krull" nach Deutschland gekommen, im Gefolge seine Frau Katia und seine Tochter Erika. Während sich das Hotel und die Stadt auf den Nobelpreisträger und seine Lesung mit steigender Erwartung und Nervosität vorbereiten, plagt den fast 80-jährigen Ehrengast eine Erkältung, die ihn daran hindert zu sprechen - äußerst ungünstige Voraussetzungen für die für den nächsten Tag geplante Lesung.

Bevor Thomas Mann im letzten Teil von "Königsallee", dem neuesten Roman von Hans Pleschinski, doch noch die Stimme erhebt, kommen zunächst Familienmitglieder, ehemalige Weggefährten und vor allem seine alte Liebe Klaus Heuser zu Wort, denn sie sind alle zur selben Zeit im "Breidenbacher Hof" abgestiegen. Heuser, den Mann 1927 auf Sylt kennen und lieben lernte und der die Familie Mann auch in München besuchte, ging zu Beginn des Kriegs als Kaufmann nach Sumatra und ist nun mit seinem javanischen Freund Anwar Batak nach Düsseldorf gekommen, um seine Eltern zu besuchen. Dass er im "Breidenbacher Hof", wo er sich und seinen Lebensgefährten einquartiert hat, nicht nur auf Thomas Mann, sondern auch auf dessen Tochter Erika, dessen Sohn Golo und Manns ehemaligen Freund Ernst Betram trifft, hat er nicht erwartet. In langen Gesprächen, mitunter Monologen seiner Gesprächspartner, muss sich Heuser dem jeweiligen Anliegen seines Gegenübers stellen.

Die forsche und fürsorgliche Tochter Erika möchte Heuser zur Abreise bewegen, da sie fürchtet, die Anwesenheit des ehemaligen Geliebten könnte ihren Vater zu sehr aus der Fassung bringen. Der unterschätzte Sohn Golo möchte, dass Heuser seinem Vater sein neues Buch "Vom Geist Amerikas" vorlegt und ihn zu einem öffentlichen Wort über die Talente seines Sohnes bewegt. Ernst Betram, einst Freund des Nobelpreisträgers, verlor Kontakt und Freundschaft zu dem emigrierten deutschen Dichter, als er sich in Deutschland verbleibend der Nazi-Diktatur zuwandte und bei der Bücherverbrennung mithalf. Heuser soll nun auch für diesen Hotelgast ein gutes Wort bei Mann einlegen und eine Versöhnung der beiden Freunde im noch immer zerrütteten Nachkriegsdeutschland herbeiführen.

Für absolute Kenner der Mann'schen Werke und Biografie ist es nicht unbedingt schwer, diejenigen Elemente in "Königsallee", die auf wahren Begebenheiten beruhen, und solche, die der Fantasie Pleschinskis entspringen, auseinanderzuhalten. Leser bzw. Hörer, die über weniger Vorkenntnisse verfügen, werden den fließenden Übergang zwischen Realität und Fiktion, den Pleschinski so mühelos kreiert, nicht als Grenze zwischen Erfundenem und wahrhaftig Stattgefundenem wahrnehmen. Tatsächlich besuchte Thomas Mann im August 1954 auf der letzten Deutschlandreise vor seinem Tod 1955 für zwei Tage Düsseldorf, um dort eine Lesung zu halten. Begleitet wurde er jedoch nur von seiner Frau Katia. Ein Wiedersehen mit dem über 30 Jahre jüngeren Klaus Heuser, den er in seiner Romanfigur des "Joseph" verewigt hat, hat in Wirklichkeit nicht stattgefunden.

Wie Thomas Mann in seinem Roman "Lotte in Weimar" lässt auch Pleschinski in seiner "Königsallee" einen großen, in die Jahre gekommenen deutschen Dichter auf seine nie vergessene Liebe treffen. Ein handlungsarmer Roman mit mehr oder weniger dozierenden Auftritten von Freunden, Familienmitglieder und Weggefährten ist das Ergebnis. Für die bisweilen hochpoetischen, manchmal philosophischen oder politischen Äußerungen seiner Figuren hat Pleschinski im Nachlass Heusers und in den Tagebüchern der Mann-Familie nach Zitaten gesucht und sie in seinen Roman über den deutschen Literaturnobelpreisträger eingebaut.

Der Kürzung für das Hörbuch sind leider einige Anspielungen auf Figuren aus Thomas Manns Werken zum Opfer gefallen, doch profitiert die Hörbuchproduktion vom Können des geübten Hörbuchsprechers und Schauspielers Joachim Schönfeld, der die oft langen monologartigen Passagen interessant gestaltet und jeder Figur eine eigene Intonierung verleiht.

Sabine Mahnel
05.08.2013

 
Diese Rezension bookmarken:

Das Buch:

Hans Pleschinski: Königsallee

Sprecher: Joachim Schönfeld
Hamburg: Hörbuch Hamburg 2013
Spielzeit: 475 Min., € 19,99
ISBN: 978-3-89903-878-1

Diesen Titel

Logo von Amazon.de: Diesen Titel können Sie über diesen Link bei Amazon bestellen.