Hörbücher
Fluchtgeschichten, die die Wirklichkeit schrieb
Als 1940 Nazi-Deutschland Frankreich besiegt und besetzt, wird die Situation für all diejenigen, die nur einige Jahre zuvor vor der Verfolgung durch die Nazis aus Deutschland ins damals noch sichere Nachbarland geflohen waren, plötzlich lebensgefährlich. Insbesondere bekannte Künstler und Intellektuelle stehen ganz oben auf der Fahndungsliste der Gestapo, darunter Berühmtheiten wie Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Walter Benjamin, Anna Seghers und Hannah Arendt. Literaturkritiker und Autor Uwe Wittstock setzt all diesen Persönlichkeiten mit seinem Sachbuch "Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur" ein Denkmal.
Viele der verfolgten Persönlichkeiten versammelten sich 1940 in Marseille, da dort ein gewisser Varian Fry, seines Zeichens US-amerikanischer Journalist, der bereits 1933 in Deutschland weilte und hautnah die Anfänge der Judenverfolgung erlebte, das "Emergency Rescue Committee" gegründet hat, um vornehmlich deutsche Schriftsteller und Intellektuelle außer Landes zu bringen. Er organisierte mit einem kleinen, handverlesenen Stab an Mitarbeitern die Flucht über Schmugglerpfade in den Pyrenäen, Ausreise-, Transit- und Einreisevisa sowie Geld für Schiffspassagen und Unterkünfte.
Auch wenn man als Hörer dieser Geschichten oftmals schon weiß, ob die jeweiligen Autoren, Künstler oder Komponisten überlebt haben und in welchem Land sie letztendlich Asyl gefunden haben, sind viele Details über ihren Weg dorthin weniger bekannt - ebenso wie die Arbeit von Menschen wie Varian Fry. Anna Seghers Flucht mit ihren zwei Kindern hätte kein Thrillerautor besser schreiben können und Walter Benjamins Selbstmord nach dem geglückten Grenzübertritt nach Spanien lässt einen verzweifelt und ungläubig zurück. Auch die Schilderungen der grausamen Verhältnisse in den französischen Internierungslagern, in denen "unerwünschte Ausländer" wie Lion Feuchtwanger gefangen gehalten wurden, wurden bisher selten in der Literatur thematisiert.
Uwe Wittstock hat bereits vor einigen Jahren mit "Februar 33. Der Winter der Literatur" ein ähnlich geartetes Sachbuch vorgelegt und schildert nun in "Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur" eine Art Fortsetzung. Oftmals vergisst man als Leser bzw. Hörer, dass es sich eigentlich um eine Schilderung wahrer Begebenheiten und nicht um Fiktion handelt, so unglaublich und spannend präsentiert sich hier die Realität, die Wittstock chronologisch erzählt. Der Schauspieler und auch regelmäßig als Sprecher tätige Julian Mehne liest diese Fluchtgeschichten unaufgeregt und doch so ergreifend. Als Hörer muss man sich allerdings der Herausforderung stellen, dass man sich beim Wechsel zwischen den einzelnen Schicksalen, die Wittstock versucht, chronologisch darzustellen, und sie daher ineinander verweben muss, immer erst einmal orientieren muss, wo man sich befindet und um welche der vielen Persönlichkeiten es gerade geht.
Mit "Marseille 1940" wurde nicht nur den rund 2000 bekannten und weniger bekannten Menschen, denen Fry mit dem Emergency Rescue Committee in den Jahren 1940/41 zur Flucht verhelfen konnte, ein Denkmal gesetzt, sondern auch Fry selbst, der sich ebenfalls in Gefahr begab, um anderen Menschen das Leben zu retten.
Sabine Mahnel
04.05.2024