Hörbücher
In den Schweizer Bergen
Im noblen Verbier, einem mondänen Schweizer Skiort, geschah vor einigen Jahren ein Mord in einem Luxushotel, der unaufgeklärt blieb. Nun begibt sich der berühmte Schriftsteller Joël Dicker mit seiner Nachbarin für ein paar entspannende Tage in eben dieses Hotel. Dabei stoßen die beiden auf ein kurioses Detail bezüglich der Nummerierung der Zimmer im Hotel "Palace de Verbier". Eine Zimmernummer 622, die scheinbar kein Unglück heraufzubeschwören scheint wie beispielsweise eine 13, suchen sie nämlich vergeblich, stattdessen findet sich eine 621a. Der Grund dafür, dass diese Nummer aus dem Hotel verschwunden ist, liegt in den Ereignissen ein paar Jahre zuvor, und schon finden sich die beiden, die eigentlich Zerstreuung suchten, in einem ungelösten Mordfall wieder. Dass Dicker dabei auch noch die charmante Scarlett kennenlernt, macht die Situation nur noch komplizierter.
Wenn alle zwei bis drei Jahre ein neues Buch aus der Feder Joël Dickers entspringt, wird die Latte der Erwartungen stets sehr hoch angelegt. Schließlich hat der in Genf geborene Dicker anno 2012 mit seinem Debüt "Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert" die Freunde anspruchsvoller Erzählungen in Verzückung versetzt. Auch die wunderbare und liebevolle "Geschichte der Baltimores" war ein voller Erfolg und bewies, dass es sich bei dem jungen Schweizer definitiv um kein "One-Hit-Wonder" handelte. In der Zwischenzeit legte Dicker noch "Das Verschwinden der Stephanie Mailer" nach, und nun also "Das Geheimnis von Zimmer 622", worin der Autor den Plot seines Romans erstmals in seine Schweizer Heimat verlegte, nachdem er zuvor bevorzugt die amerikanische Ostküste frequentierte.
Auch wenn Joël Dicker bereits in seinen drei Vorgängerromanen die Geschichten jeweils recht komplex angelegt hatte, treibt er dies im vorliegenden Roman auf die Spitze. Nicht nur, dass man ob der Namensidentität des Protagonisten ständig Autor und Hauptdarsteller in einen Topf wirft, zieht der Autor seinen Plot auf die nächste Ebene, indem er den Autor im Buch einen Roman schreiben lässt, und zwar über jenen Mord im "Palace de Verbier". Dass Dicker am Ende bei der Aufklärung nochmal einen basisstrukturellen Twist hinlegt, überrascht dann wohl keinen mehr. So verwundert es folglich auch nicht, dass Dicker für das in der deutschen Übersetzung beim Piper Verlag erschienene Werk entsprechenden Platz benötigt, über 600 Seiten sind schließlich dabei zusammengekommen.
Das parallel bei Osterwold Audio erschienene Hörbuch ist dank der brillanten Lesung durch Torben Kessler mindestens eine gleichwertige Option zum Buch. Mit seiner angenehmen Stimme und dem wunderbaren Gefühl für Tempo und Betonung zieht er den Hörer knapp 19 Stunden lang in den Bann. Auf drei mp3-CDs wird eine ungekürzte Lesung ausgeliefert, so dass man keine einzige Zeile verpasst. Der Wiedererkennungswert eines Joël-Dicker-Romans durch die Besetzung des Mikrofons mit Torben Kessler ist ebenfalls gegeben, da der Schauspieler auch allen anderen Hörbüchern Dickers seine Stimme geliehen hat. Dennoch ist beim Hörbuch erhöhte Vorsicht geboten, da man im Wechsel der Zeiten und Ebenen stets geistig auf Ballhöhe sein muss, um der verschachtelten Erzählung folgen zu können.
Die Verwandlung des Joël Dicker vollzieht sich mit seinem vierten Roman weiter. Nachdem er anfangs, vor allem in seinen beiden ersten Romanen, als wunderbarer Geschichtenerzähler, dem man an den Lippen klebte, brilliert hatte, scheint er im Fortgang seiner Schriftstellerkarriere zu viel zu wollen. Seine Entscheidung, in "Das Geheimnis von Zimmer 622" höchstpersönlich als Hauptfigur auf den Plan zu treten, sorgt gleich zu Beginn für Stirnrunzeln und zieht sich als Merkwürdigkeit durch den gesamten Roman. Die Verflechtungen in der Handlung, die ins Schweizer Bankenmilieu abtaucht, verlangen Leser bzw. Hörer einiges ab. Wer bereit ist, sich dieser Herausforderung zu stellen, wird in der beeindruckenden Atmosphäre der Schweizer Berge aufgehen. Allerdings mag man dem Autor gerne den Ratschlag auf den Weg mitgeben, dass manchmal weniger viel mehr und viel besser ist. Dass Dicker Bücher schreiben kann, die einen fesseln und von denen man sich wünscht, dass sie nie enden mögen, hat er schließlich bereits eindrucksvoll bewiesen.
Christoph Mahnel
14.06.2021