Hörbücher
Infotainment auf allerhöchstem Niveau
Die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds zwischen 2000 und 2006 gehört zweifellos zu den ungeheuerlichsten Vorkommnissen in der gesamten Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zehn Morde und zwei Bombenanschläge waren durchweg rassistisch motiviert, dazu gesellte sich mehr als ein Dutzend Raubüberfälle zur Finanzierung dieser Terrorgruppe im Untergrund. Während sich mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zwei Drittel des Trios am 4. November 2011 direkt nach einem gescheiterten Banküberfall selbst richteten, bildete Beate Zschäpe als Dritte im Bunde schließlich das Gesicht dieser rechtsextremen Terrorzelle. Im Saal 101 des Münchener Oberlandesgerichts fand von Mai 2013 bis Juli 2018 mit den sogenannten NSU-Prozessen das Strafverfahren gegen die Hauptangeklagte Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte statt.
Eine Fülle von Informationen in Form von Zeugenaussagen, Anklageschriften, Plädoyers und dem letztendlichen Urteil aus den insgesamt 438 Prozesstagen galt es zu verarbeiten. Da in der deutschen Justiz Filmaufnahmen nicht gestattet sind, übernahmen 27 ARD-Berichterstatter die Rolle der Protokollanten. Ein gewaltiges Material war dabei entstanden, das der Hörspielregisseur Ulrich Lampen schließlich mit einem Bearbeitungsteam und einem Sprecherensemble zu einem beeindruckenden Hörspiel verarbeitete: "Saal 101: Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess" lautet in Anlehnung zur Örtlichkeit des Prozesses der Titel des vorliegenden Hörspiels, das Anfang dieses Jahres beim Münchener Hörverlag erschienen ist. Auf etwas mehr als zehn Stunden konnten Lampen und seine Mitstreiter abertausende Aussagen, Dokumente und Mitschriften schließlich zusammendampfen. Für den zeitgeschichtlich interessierten Hörer kommt dieses Hörspiel einem wahren Glücksfall gleich.
Man kann sich leicht vorstellen, wie sehr in gut fünf Jahren mündlicher Anhörungen die einzelnen Fäden der Beweisaufnahme mal zerfaserten, mal wieder zusammenliefen. Als Hörer befindet man sich nun in der komfortablen Situation, dass durch die Aufarbeitung ex post das Ganze eine thematische Strukturierung erfahren konnte. Auf jeder der zwölf CDs befinden sich zwei von insgesamt 24 Teilen, jeweils eine knappe halbe Stunde lang. Beginnend mit einer Einleitung zu dem Gesamtprozess und schließend mit den Plädoyers und dem Urteil befinden sich dazwischen insgesamt 22 Teile mit unterschiedlichsten Beweisaufnahmen. Einige davon beschäftigen sich mit den einzelnen Morden und Anschlägen des NSU-Trios, andere mit dessen Werdegang und dem Weg in den Untergrund. Schließlich beschäftigen sich einige Teile explizit mit den Angeklagten oder der Rolle des Verfassungsschutzes, der sich im Kontext der NSU-Mordserie sicherlich nicht mit Ruhm bekleckerte. Ein wichtiges Anliegen war es auch, dass die Angehörigen der Opfer und damit die zentralen Leidtragenden Raum erhalten und ihre Fragen und Gedanken platziert bekommen.
Mit dem Regisseur Ulrich Lampen war dem kundigen Hörer anspruchsvoller Radio-Features sogleich klar, dass hier ein Werk mit höchster Qualität an den Start gerollt werden würde. So zeichnete er in der Vergangenheit beispielsweise mit "Die NS-Führung im Verhör" für ein ähnlich geartetes Projekt verantwortlich, das die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse zum Gegenstand hatte. Obgleich Lampen bereits mit diversen Auszeichnungen hochdekoriert ist, steht das vorliegende Werk ob seines Mammutcharakters und der brisanten Aktualität sicherlich auf einer noch höheren Stufe als alles zuvor. Das fertige Hörspiel wurde auf zwölf CDs gepresst und mit einem ausführlichen und sehr informativen Booklet in einer hochwertigen Box ausgeliefert. Eingedenk dieser haptischen Qualität und des enormen journalistischen Aufwandes hinter diesem Hörspiel ist der Preis von 49 Euro definitiv gerechtfertigt.
Das Ensemble der Sprecher ist ebenfalls hochkarätig besetzt, wobei bewusst darauf verzichtet wurde, einzelnen Protagonisten des Prozesses einen dedizierten Sprecher zuzuweisen. Dadurch gelingt es definitiv, Authentizität zu erzeugen, indem man eben explizit kein Rollenspiel inszeniert. Unabhängig davon, wie intensiv man in der Vergangenheit die Nachrichten zu den Morden und dem Prozess des NSU verfolgt hatte, dringt man beim Hören rasch zu den Knackpunkten und den entscheidenden Themenstellungen in diesem Prozess vor: Bestand der NSU tatsächlich nur aus drei Personen? Wie stark und entscheidend waren die Unterstützungsleistungen des rechtsextremen Netzwerks? Welche Rolle spielte der Verfassungsschutz und wie groß war dessen Mitwisserschaft? Knapp zehneinhalb Stunden später kann sich der Hörer selbst einen Reim darauf machen. Ein imposantes Hörerlebnis mit einem beschämenden Blick in die Abgründe der Menschheit!
Christoph Mahnel
20.04.2021